"Wo in Paris die Sonne aufgeht": Schöne Lebensnähe
"Les Olympiades": ein 70er-Jahre Betonstadtteil, mittlerweile gut eingelebt, in Uni-Nähe und mit hohem asiatischer Bevölkerungsanteil mit eingestreuten Studenten und ein paar wenigen Hipstern. Diese Gegend im 13. Pariser Arrondissement hat dem Film von Jacques Audiard den Originaltitel gegeben, den der deutsche Verleih mit "Wo in Paris die Sonne aufgeht" romantisiert hat. Nicht ganz zu Unrecht, denn schließlich geht es durchaus um Liebe - wenn auch vordergründig erst einmal vor allem um Sex. Und da geht es gleich zu Beginn zur Sache.
An der Tür der Eliteuni-Studentin Émelie, die aber das Studium geschmissen hat und jetzt in einem Callcenter Leuten Telefon- und Streamingverträge aufdrückt, klingelt Camille - und weil der Name im Französischen männlich und weiblich sein kann, hatte sie eine Frau erwartet, denn die machen als Mitbewohner weniger Ärger… Aber vor der Tür steht eben ein Literaturlehrer. Camille will noch promovieren und sucht dazu ein Zimmer in Uni-Nähe. Kurzes witziges, skeptisches Geplänkel - und man landet auf der Couch. Camille ist angenehm überrascht. Sie antwortet mit ihrem Motto: "Erst vögeln, dann mal schauen".
"Wo in Paris die Sonne aufgeht": Unverkrampft gegenwärtig
Audiard hat nach einigen auffällig harten Filmen - wie "Ein Prophet", "Der Geschmack von Rost und Knochen" oder "Dheehan" - diesmal aus drei Graphic-Novel-Kurzgeschichten des New Yorkers Adrian Tomine einen Liebesreigen in Paris gemacht. Die Figuren sind alle erwachsen, wissen auch, wie das Leben spielt, aber haben eben noch nicht den erwarteten Weg eingeschlagen oder gefunden, der sie in die Zukunft tragen soll.
Aus dieser nervösen Schwebe zwischen Offenheit, Unsicherheit und Verlorenheit entsteht die große Abenteuerlust und nervöse Spannung. Wobei alle vorgeben, recht cool zu sein, womit sie aber auch Verletzungen und Verlassenheitsängste verbergen.
Dass Audiards Film dabei eine asiatisch-stämmige Französin (Lucie Zhang als Émilie), einen Schwarzen (Makita Samba als Camille) sowie zwei weiße Frauen besetzt und damit divers, ist hier völlig undidaktisch, lässig selbstverständlich - und damit unverkrampft gegenwärtig.
Audiard erzählt in berauschender Form
Zum Spontanpaar Émelie und Camille gesellt sich spannungsreich noch Nora (Noémie Merlant): eine Frau, die nach Jahren ihr Leben in Bordeaux hinter sich lässt und in Paris ihr Jurastudium wieder aufnimmt. Eine fatale Verwechslung mit einem Cam-Pornostar (Jehnny Beth) bringt in perverse Situationen und Social-Media-Mobbing. Sie wird aber zu dieser Amber Sweet Kontakt aufnehmen, so dass der Film nach einer Dreiecksgeschichte sogar vier Menschen beleuchtet.
Audiard erzählt das alles in berauschender Form. Die Straßen und Häusermeere leuchten in silberglänzendem, kunstfotografischem Schwarz-Weiß. Der Kapitel-Dreisprung "Wie es begann, "Einige Monate später" und "Sonntag" unterbricht den elegant verflochtenen Handlungsablauf dabei nicht, sonder dynamisiert ihn sogar. Und immer prägen den Film seine bewegend schönen Sequenzen - bis hin zum Laufen im Regen mit Kopfhörermusik, was hier kitschfrei und ohne Werbeclip-Glätte funktioniert.
Am Ende hat man mit "Wo in Paris die Sonne aufgeht" einen Film gesehen, der psychologisch spannend ein heutiges Lebensgefühl verhandelt zwischen Tinder und Bindungswunsch, Job-Perspektive und Freiheit und eben das Suchen und Finden von Liebe und Sex. Dass alle Figuren dann einen Schritt weitergekommen sind, sich fragen, zu wem sie wirklich passen und zu ihren wirklichen Gefühlen durchbrechen, lässt den Zuschauer im angenehmen Gefühl eines Happy Ends zurück, bei dem aber noch genügend Fragen anregend offengeblieben sind.
Und zum Abschluss fasst eine moderne französische Version eines Marlene/Hollaender-Songs - gesungen von der Schauspielerin Lucie Zhang selbst - noch einmal alles akustisch und thematisch zusammen: "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt" - und das schließt ja Sex mit ein.
Kino: ABC, Isabella sowie Maxim, City, Monopol (auch OmU) und Theatiner (OmU), R: Jacques Audiard (F, 105 Min.)
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