"Wo in Paris die Sonne aufgeht" im Kino: Sich nah und doch verloren sein

Der französische Regisseur Jacques Audiard feiert am 30. April seinen 70. Geburtstag und ist ein Phänomen. Fast jeder seiner nur neun Spielfilme seit 1984 gewann wichtige Filmpreise.
In seinem neuen Meisterwerk "Wo in Paris die Sonne aufgeht" inszeniert er nach drei Kurzgeschichten des US-Comicautors Adrian Tomine einen modernen multikulturellen Liebesreigen im Pariser Viertel "Les Olympiades" (so auch der Originaltitel).

Da kreuzen sich die Lebens- und Liebeswege einer Taiwan-Französin (Lucie Zhang), einem schwarzen Literaturlehrer (Makita Samba) und einer Anfang Dreißigjährigen (Noemie Merlant), die ihr Jurastudium wieder aufnimmt und durch eine fatale Verwechslung mit einem Cam-Pornostar (Jehnny Beth) in die Bredouille gerät.
Urbane Protagonisten an einem überschaubaren Ort
AZ: Monsieur Audiard, erfinden Sie sich nach harten und männlich orientierten Filmen gerade neu?
JACQUES AUDIARD: Es gibt eine Kontinuität in meinen Filmen, aber keine Wiederholung. Ein neuer Film heißt für mich so etwas wie eine Schublade mit noch nicht erfüllten Wünschen zu öffnen. Nach einem Männerfilm und Western wie "The Sisters Brothers" mit großem Gewaltpotenzial erzähle ich jetzt von der Gewalt in der Liebe. Ich wollte etwas Abweichendes: urbane Protagonisten an einem überschaubaren Ort und auch ästhetisch eine andere Herangehensweise.
"Ich habe lange dort gelebt": Audiard erinnert sich an "Les Olympiades"
Setzen Sie deshalb auf eine Schwarz-Weiß-Optik?
Ich habe oft in Paris gedreht und finde, die Stadt ist irgendwie abfotografiert mit ihrer Haussmann-Architektur und den typischen Touristenbildern. Deshalb bin ich raus aus dem üblichen Rahmen und zeige diese Metropole in einem neuen Gewand.
Und führen uns in das 13. Arrondissement, im Südosten von Paris, ein für viele unbekanntes Terrain.
Genauer gesagt in einen Teil davon, in "Les Olympiades". Ich mag dieses pulsierende und sehr authentische Viertel mit seiner sozialen, ethnischen und kulturellen Durchmischung. Es wurde in den 70ern mit einer Vielzahl von Hochhäusern aus dem Boden gestampft und hat sich zu einem lebendigen Zentrum mit einer starken asiatischen Community gemausert. Genau das richtige Pflaster für meine Protagonisten. Ich habe dort lange gelebt und schlendere da immer noch gerne durch die Straßen.
Sie haben das Drehbuch gemeinsam mit Céline Sciamma und Léa Mysius geschrieben, beide auch Regisseurinnen.
Céline und Léa sind sehr unterschiedlich, aber tolle Drehbuchautorinnen und durch ihre Erfahrung als Regisseurinnen brachten sie konkrete Vorschläge ein. Der weibliche Blick war nützlich, stand aber nicht von Anfang an ganz oben auf der Agenda. Mir gefiel, dass sie für eine neue Farbe in der Geschichte sorgten, die in meinen vorherigen Filmen fehlte.
Audiards Protagonisten "durchlaufen eine Reifeprozess"
Was verbindet Ihre auf den ersten Blick doch sehr unterschiedliche Filme?
Meine Filme einzuordnen, ist schwierig. Ein Punkt kristallisiert sich immer wieder heraus: Ich nenne es eine Art von "Bildungsfilm", es geht um persönlichen Weiterentwicklung. So stimmt in "Wo in Paris die Sonne aufgeht" die Selbstwahrnehmung der drei Figuren Camille, Emilie und Nora überhaupt nicht, sie lügen sich in die eigene Tasche, sind desillusioniert und machen sich was vor. Im Verlauf der Handlung lernen sie, mit unangenehmen Wahrheiten umzugehen, durchlaufen einen Reifeprozess, an dessen Ende sie sich zu ihren Gefühlen bekennen.
Audiard: "Ich erzähle vom Diskurs der Liebe"
Obgleich sie anfangs die Liebe mehr en passant mitnehmen, ohne große Emotionen...
Genau. Ich erzähle vom Diskurs der Liebe. Das Thema bewegt mich seitdem ich als junger Mensch "Meine Nacht bei Maud" aus dem Zyklus der "moralischen Geschichten" von Éric Rohmer aus dem Jahre 1969 gesehen habe. Fünf Mal die Woche! Da reden ein Mann und eine Frau eine ganze Nacht lang miteinander. Über Gott und die Welt, alles was sie irgendwie bewegt, vom Leben in der Provinz bis hin zum Verhalten katholischer Mädchen. Als es am Ende darauf ankommt, sich körperlich zu lieben, ziehen sie sich zurück. Verführung und Erotik waren im Dialog schon durchdekliniert. Heute schläft man den ersten Abend miteinander, der Diskurs der Liebe folgt nach dem Sex, wenn überhaupt. Ich bin mit Haut und Haaren Romantiker und deshalb sicher, dass man trotz der Diskursverflachung eine neue Form sucht und damit experimentiert.
"Das Flirten fällt oft weg": Audiard über moderne Regeln des Begehrens
Sex gehört in Zeiten von Tinder beim ersten Date quasi zum Pflichtprogramm. Partnerwechsel und Bindungslosigkeit prägen eine ganze Generation.
Die Regeln des Begehrens in flüchtigen Beziehungen haben sich geändert, das Flirten fällt oft weg. Ich betrachte den Einsatz von Dating-Apps oder Sex im Internet, wie auch den Trend, sich sexuelle Bedürfnisse in kurzen Affären zu erfüllen, mit Erstaunen und Neugier. In diesem Zusammenhang ist es doch ein Paradox, dass die größte Intimität sich zwischen zwei Menschen entwickelt, die sich anfänglich nur über den Laptopmonitor sehen und dann reden und reden, bis aus dem Dialog Liebe entsteht. Zwischen Nora und Amber spüre ich die größte Erotik.
Audiard: "Zwischen 25 und 35 war ich nicht wirklich glücklich"
Irgendwie wirken Ihre jungen Großstädter in der Suche nach Identität und Nähe einsam und verloren.
Vielleicht Verlorene, aber ohne große Melancholie. Drei der vier Hauptfiguren sind schon Mittdreißiger. Alle lieben das Leben, haben noch keine Lust, sich gesellschaftlichen Normen anzupassen, lassen sich treiben. Ewige Jugendliche, die beruflich und privat, sexuell und in der Liebe noch nach einem Ziel suchen. Ein gutes Beispiel ist Emilie, Absolventin der Eliteschule Sciences Po. Für mich ist sie der Prototyp einer asiatischen Frau, die akademischen Ansprüchen genügt und Erfolg haben könnte. Sie hat sie die Nase voll, zu arbeiten und Karriere zu machen, nur um die Erwartungen ihrer Familie zu befriedigen. Die einzige Opposition, die ihr bleibt, ist in einem unqualifizierten Job zu arbeiten und sich quasi sozial zu deklassieren. Aber sie kann sich das erlauben, ist erst Mitte zwanzig, schön und kultiviert.
Würden Sie gerne mit Ihren Protagonisten tauschen, noch einmal in deren Alter sein?
Zwischen 25 und 35 war ich nicht wirklich glücklich. Wenn ich Camille, Emilie und Nora betrachte, wie sie sich im 13. Arrondissement wie Fische im Wasser bewegen, bin ich fast neidisch auf ihre lockere Art, ihr Freiheitsgefühl und ihre Leichtigkeit, manchmal auch auf ihre Selbstverständlichkeit, mit der sie trotz Sinnkrisen durchs Leben gehen. Ich würde gerne mit ihnen tauschen, morgen oder am besten sofort. Leider unmöglich.
Bei unserem Gespräch zu "Der Geschmack von Rost und Knochen" 2012 in Cannes meinten Sie, jetzt müssten Sie sich beeilen mit dem Filmemachen. Rennt Ihnen die Zeit davon?
Ich werde ja nicht jünger und muss die Zeitspanne von drei Jahren zwischen den Filmen verkürzen. Deshalb freue ich mich auf die Dreharbeiten im Mai und Juni zu meinem Traumprojekt: einem Musical auf Spanisch. Nach "Ein Prophet" wollte ich schon 2009 mit dem Drehbuch anfangen, aber dann hat sich das Projekt irgendwie verlaufen.