"Was man von hier aus sehen kann": Ein anderer Gesellschaftsvertrag
Mit "Was man von hier aus sehen kann" gelang Mariana Leky 2017 ein Überraschungshit in der deutschen Buchbranche: Der Roman wurde seither mehr als 700.000-mal verkauft und in 22 Sprachen übersetzt. Jetzt hat Aron Lehmann das Buch verfilmt und dazu Luna Wedler, Corinna Harfouch und Karl Markovics gewonnen, auch Lehmanns Frau Rosalie Thomass spielt mit.
AZ: Herr Lehmann, Ihr neuer Film ist auch eine Art "Heimatfilm", ein Film, der die Provinz porträtiert. Sie selbst sind in Wuppertal geboren, aber im Nördlinger Ries aufgewachsen, waren dann in Berlin, sind in München und jetzt am Ammersee. Sie haben ja einen autobiografischen Blick auf die Provinz von außen.
ARON LEHMANN: Ja, weil mir beim Lesen des Romans von Mariana Leky diese kleine Welt mit den skurrilen Figuren bekannt, vielleicht sogar vertraut vorkam, weil man sich auf dem Land einfach besser untereinander kennt. Das geht so weit, dass wenn ich zurück ins Nördlinger Ries fahre, ich den Menschen dort nichts vormachen kann. Die kennen meine Geschichte.
Gegensatz zwischen Stadt- und Landleben
Aber diese Geborgenheit hat ja auch die Kehrseite der größeren sozialen Kontrolle.
Klar, weil es die gibt, versuchen viele Menschen am Land auch manche Aspekte ihres Lebens stärker zu verstecken, weil sie Angst haben, zurückgewiesen zu werden und weil man den anderen ja dauernd begegnet. Also lässt man sich beispielsweise nicht so leicht scheiden. Der "Gesellschaftsvertrag" der Großstadt dagegen ist natürlich auch, mehr in Ruhe gelassen zu werden.
"Jeder zeigt sich plötzlich, wie und wer er eben ist"
Und das ist ja der Clou des Romans, dass es diese Besonderheit gibt: Immer wenn die Westerwälderin Selma von einem Okapi träumt, stirbt in den nächsten 24 Stunden jemand aus dem Dorf. Und als das wieder passiert, und jeder glaubt, er habe nichts mehr zu verlieren, zeigt jeder sich plötzlich, wie und wer er eben auch noch ist.
Fürsorge als Grundkonsens
Der Film romantisiert die Provinz dabei aber überhaupt nicht.
Und trotzdem gibt es eben auch diese gegenseitige Fürsorge über die Frage hinaus, ob man den anderen mag. Die verrückte Marlies zum Beispiel: Da wird eben auch ein Auge darauf gehabt, wie es der geht, ob die noch da ist. Das ist so eine Art Grundkonsens. In der Stadt wäre sie wahrscheinlich unter einer Brücke.
Aber die Provinz hat sich natürlich auch gewandelt, auch liberalisiert. Und da ist es interessant, dass der Film in einer Art "Zeitlosigkeit" spielt. Man weiß nicht genau, ob es die 80er- oder Anfang der Nullerjahre sind.
Genau darüber haben wir uns sehr viele Gedanken gemacht. Für mich ist der Roman auch ein zeitloses Märchen über das Zusammenleben, Liebe und Tod, Vergänglichkeit und Neuanfang im kleinen Kosmos des Dorfes oder einer kleinen Stadt. Deshalb auch der Retro-Look, der alles in der Schwebe hält. Viele Trends und Moden kamen in meiner Kindheit auf dem Land auch erst zehn Jahre später an. Und so hat sich Moderne und Vergangenheit auf dem Land viel mehr vermischt.
Und wo haben sie das Dorf im Film gefunden? Das Buch spielt ja im Westerwald.
Unsere Szenenbildnerin ist rumgefahren, hat von der Straße einen Ort gesehen, der ihr gefallen hat, ist links abgebogen. Der Ort war schön, aber nicht zu pittoresk, besonders von der Architektur, mit den Holzschindeln, romantisch, aber eben gelebt und mit Charakter – ein hessischer Ort, Ulrichstein beim Naturpark Vogelstein.
Es werden eben noch keine Handynummern ausgetauscht.
Und wenn einer weg war, ist er eben weg – wie der junge deutsche Buddhist, der nach Nepal geht und allenfalls vom Festnetz mal anrufen kann. Dieses Lebensgefühl kennen wir ja nicht mehr.
"Angenehm, mit Leuten zu arbeiten, von denen man weiß, dass sie kreativ ähnlich denken"
Corinna Harfouch spielt die ältere Selma, das emotionale Zentrum des Films. Wie kam es zu dieser Besetzung?
So eine Schauspielerin castet man natürlich nicht, sondern man schickt ihr das Buch zu und fragt sie – und ist dankbar, wenn sie ja sagt. Es ist daraus eine große berufliche Liebe entstanden.
Mit Luna Wedler verbindet Sie der Erfolg "Das schönste Mädchen der Welt" und mit Rosalie Thomass sind Sie verheiratet. Das klingt nach eingespielter Filmfamilie.
Natürlich. Weil es einfach angenehm ist, mit Leuten zu arbeiten, von denen man weiß, dass sie kreativ ähnlich denken und empfinden. Das ist auch eine Stärke meiner Beziehung mit meiner Frau. Filmemachen ist Abenteuer, und da braucht man Gleichgesinnte.
"Früher war Kino ein Qualitätsmerkmal"
Wenn man die Schwäche des deutschen Films im Kino sieht, dann laufen noch Frauenthemen unterhaltsam aufbereitet wie Karoline Herfurths "Wunderschön", aber aktuell ihr "Endlich mal was Schönes" schon nicht mehr richtig. Kinderfilme ziehen noch, aber ansonsten sieht es düsterer aus. Gibt es eine Strukturkrise?
Ganz sicher. Es beginnt schon damit, dass viel zu viele Filme produziert werden und ins Kino kommen. Da kann sich keiner mehr entwickeln, weil schon nach zwei Wochen irgendwas anderes nachschiebt. Früher war Kino ein Qualitätsmerkmal. Wenn wir das wieder schaffen, wird es auch wieder mehr Vertrauen geben, dass man ins Kino geht und dort einen guten Film zu sehen bekommt.
Man kann sich nicht einmal mehr auf Stars verlassen. Die Leute lassen sich auf nichts Neues mehr ein, nur noch auch "Brandings", also eingeführte Marken wie "Die Schule der magischen Tiere" oder der "Hotzenplotz". Auch die klassische Filmkritik, die eine deutliche Orientierung gibt, ist fast verschwunden.
"Wir müssen den schönsten Ort für Filme, das Kino, pflegen"
Das ist sicher auch so, weil die Sozialen Medien einen ungeordneten Brei erzeugen und nur noch die Trailer zählen.
Man müsste auch die Filmförderung ändern: Weniger wäre mehr. Und die Medien müssten dann auf ganz besondere Filme groß hinweisen, damit sie hervorgehoben werden. Sonst sagen die Kinos einfach: Dann machen wir unser Geld halt nur noch mit amerikanischer Ware. Nicht Filme sind fürs Kino da, sondern das Kino ist für Filme da, die Qualität haben. Filme wird es weiter geben, aber wir müssen den schönsten Ort für Filme - das Kino - pflegen.
Kino: ABC, City, Solln, Maxim, Rio
Regie & Drehbuch: Aron Lehmann
(Deutschland, 103 Min.)
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- Kultur