Vip-Partyzelte am Kunstsandstrand
Es ist schwer, einem Außenstehenden das System „Cannes” zu erklären. Da schwillt eine Stadt, die ein Fischerdorf war, von heute 75000 Einwohnern über gut eine Woche auf die dreifache Einwohnerzahl an und erlebt die größte jährliche Journalisten- und Paparazzi-Dichte der Welt, weil nirgendwo so viele Stars auftauchen wie hier.
Aber der Rote Teppich ist so abgeschirmt, dass man in der „Tagesschau” mehr davon sieht als von der Croisette aus. Und die Stars verlassen ihre Hotels kaum. Die Vip-Party-Zelte am aufgeschütteten Kunstsandstrand sind kampfhund-bewacht, die Palmen werden von städtischen Putzern abgeschrubbt, weil sie schwarz vom Nobelkarossen-Verkehrsruß sind.
Der Chopard-Laden wird mit spektakulärer Beute überfallen und die große Aids-Forschungsgala für Amfar im benachbarten Antibes, unter der Auktionatorin Sharon Stone, erzielt Höchstpreise an Tischen, wo das Gedeck im Hotel Eden Roc 10 000 Dollar kostet, nur weil Naomi Campbell und Janet Jackson am Nachbartisch sitzen. Ein Millionär ersteigert hier einen Raumfahrtflug mit Leonardo DiCaprio für 1,2 Millionen Euro. Dann eröffnet das Filmfestival mit einem opulenten US-Blockbuster wie „The Great Gatsby”, aber im Wettbewerb wird ein französischer Film über eine 17-Jährige, die entdeckt, dass sie lesbisch ist und das beginnt auch auszuleben, am meisten bejubelt („Blau ist die wärmste Farbe” von Abdellatif Kechiche).
Obwohl der Film vielleicht nie die internationalen Leinwände sehen wird, weil er wegen expliziter Sexszenen erst ab 18 Jahren zugelassen werden dürfte und in seiner dreistündigen Länge unverkäuflich scheint. Womit klar ist, dass unklar ist, was das Festival will: Glamour-Nabel der Welt oder Spiegel des Kunstkinos, das oft unbequem ist.
Favorit: Ein Film über eine 17-jährige Prostituierte
Steven Spielberg ist in diesem Jahr Jurypräsident, hat mit Ang Lee einen amerikanischen Konkurrenz-Taiwanesen beigeordnet bekommen und Nicole Kidman sowie Christoph Waltz. Die wurden auf keiner Party gesichtet, weil sie – der strenge Spielberg gab die Regeln vor – täglich um sieben Uhr morgens zusammen mit einem rumänischen Regisseur, einer britischen Kollegin und dem französischen Schauspieler Daniel Auteuil als Jury antreten mussten. Aber zum Bürgermeister-Lunch im Burggarten über der Stadt sind sie dann doch alle sommerlich gekleidet gekommen - und haben geschwiegen über ihre Diskussionen.
Aber als Favoriten für die Palmengala am Sonntag werden dann doch die französische Produktion „Jeune et jolie – jung und schön” gehandelt, wobei viele fragen, ob ausgerechnet eine US-dominierte Jury einen moralisch nicht wertenden Film über eine 17-jährige Prostituierte gewinnen lassen kann, geschweige denn den anrührenden, aber explizierten lesbischen Film von Kechich.
So tippt man, dass Bérénice Bejo den Darstellerinnenpreis bekommt, die Schauspiel-Artistin ist für Marion Cotillard beim iranischen Regisseur und Berliner Bären-Gewinner Farhadi eingesprungen und hat gezeigt, dass sie mehr kann als nur unfassbar nett lachen, wie in „The Artist”. Und Michael Douglas ist als Schauspieler hier hoch gehandelt, weil er als Darsteller des Glitzerschwulen Liberace sich radikal exponiert, auch am Ende als ausgezehrter Aids-Kranker, was gespenstisch an Douglas' eigene Krebskrankheit erinnerte. Und ein Preis für diesen Film würde dem amerikanischen Studiosystem eine Watsche geben, das Steven Soderbergh so frustriert hat, dass er mit „Behind the Candelabra” seinen Kinoabschied vollzogen hat.
Cannes hat in seiner 66. Ausgabe gezeigt, dass es noch magische Macht und Anziehung hat, Stars kommen, Kinokunst gefeiert werden kann. Dass da deutsche Schauspieler wie Bruno Ganz und David Kross („Krabat”) in einer in Langsamkeit erstarrenden, pseudopathetischen „Kohlhaas”-Version mit Mads Mikkelsen nur eine Nebenrolle spielen, ist verschmerzbar. Und dass die große Filmmesse, die im Palais du Festival hinter dem Roten Teppich stattfindet, bereits aus allen Nähten platzt, zeugt auch davon, dass hier die letzte Klappe noch lange nicht fällt.