Kritik

"Verlorene Illusionen": Geld, Ruhm, Witz und Absturz

Der Film "Verlorene Illusionen" nach Honoré de Balzac.
von  Adrian Prechtel
Im dekadenten, hochmütigen Höhenrausch: Der Autor Lucien (Benjamin Voisin), mit dem wir durch das Paris der 1840er tanzen.
Im dekadenten, hochmütigen Höhenrausch: Der Autor Lucien (Benjamin Voisin), mit dem wir durch das Paris der 1840er tanzen. © Cinemien

Zu den schönsten Momenten im Kino gehört es, wenn man mitgerissen wird, vergisst, wo man gerade ist, mitgeht, ohne dass Emotionsklischees einen in die Falle gelockt haben. Die Balzac-Verfilmung des Franzosen Xavier Giannoli "Verlorene Illusionen" schafft das: In einem wilden Bilderrausch aus Party, Oper, Champagnergläsern und erlesenen Räumen bis hin zu wilden, marktschreierischen Redaktionsstuben wird eine vollkommen verkommene Pariser Gesellschaft gezeigt.

Genusssüchtig und korrupt

In der Restaurationszeit Frankreichs ist von den revolutionären Idealen nichts mehr übrig: Das Bürgertum und die Bohème sind genusssüchtig - und vor allem korrupt. Die Aristokratie wiederum versucht, mit altem Standesdünkel zu retten, was zu retten ist. Und da ist noch viel, woran sich wiederum viele opportunistisch anhängen.

Idealistisch romantisch wie beim jungen Werther

Dabei beginnt alles melodramatisch in der Provinz, wo der unbekannte Dichter Lucien (Benjamin Voisin) - idealistisch romantisch wie ein junger Werther - eine Affäre mit einer Landadeligen (Cécile de France) hat. Ihr Mann toleriert es, schafft ein Gentlemen's Agreement. Bis es einen Skandal zu geben droht. Da entsorgt er den Poeten nach Paris, wobei witzigerweise immer im Unklaren bleibt, ob der junge Schönling literarisch wirklich etwas draufhat.

Im Rausch des Films verliert der Zuschauer seinen moralischen Kompass

In der Schlangengrube der hauptstädtischen Journaille erlebt Lucien eine Achterbahnfahrt mit Aufstiegen und Fallen, Himmel und Hölle. Und in diesem wilden Jahrmarkt der Eitelkeiten und Intrigen passiert dem Zuschauer etwas Interessantes: Im Rausch des Filmes, verliert er seinen moralischen Kompass - wie Lucien, - und er genießt mit ihm Ausschweifung und Laster.

Originalsätze von de Balzac

Dabei hat Regisseur Giannoli noch eine objektivierende Bremse eingebaut, die aber selbst Illusionen verloren hat: Aus dem Off werden unfassbar elegante und analytisch beißende Originalsätze von Honoré de Balzac (1799-1850) eingestreut. Und der hat Verständnis für die Verführung zu Geltung und Geld, ist gleichzeitig aber schonungslos in der gesellschaftlichen und psychologischen Analyse. Was den Genuss des Films vermehrt, weil man in der Doppelposition des Teilnehmers und Außenstehenden ist.

Am Ende gibt es keine einzige saubere Seite mehr

In diesem Rausch aus Faszination und Ekel gibt es am Ende keine einzige saubere Seite mehr - weder gesellschaftlich noch privat, noch in einer Zeitung. Alles ist käuflich: Applaus (es wird sogar eine Applausmaschine unter den Sitzreihen erfunden), Sex (die Börse und die Redaktionsstuben sind gleichzeitig Markthallen für Frauen) sowie Kritiken und Gunst der Presse!

Was hier in der Nebenfigur eines Analphabeten als Verleger einer wichtigen Zeitung gipfelt (gespielt von Gérard Depardieu). Und wenn man sich eine positive Kritik oder die Vernichtung einer Person hat bezahlen lassen, dann schickt man vorab den Artikel einer gegnerischen Zeitung, damit sich die schon mal zum Gegenschlag rüsten kann. Denn kalkulierter Skandal und inszenierte Kontroverse sind ein Geschäft.

Alles ist beliebig und käuflich

Die einzige Regel: Eleganz, gedrechselte Intellektualität, Schlagfertigkeit und schöner Schein! Haltung, Loyalität? Beliebig und käuflich! Die Frage nach der Wahrheit? Die beantwortet ein Kollege Luciens mit einer Anekdote: Stehen zwei Journalisten am See Genezareth. Kommt Jesus vorbei und geht übers Wasser. Sagt der von der Konkurrenz: "Wahnsinn, göttlich!" Schreibt der andere: "Jesus kann nicht mal schwimmen!"

Aktueller Spiegel eines zügellosen Gewinnstrebens

Bedauert man als Zuschauer heute am Ende des Films die Niederschlagung der Pressefreiheit durch die Royalisten, die ihrerseits zynisch, dünkelhaft und doppelmoralisch sind? Klar, es ist das Ende eines essenziellen Freiheitsrechts. Aber hier ist man auch erleichtert, dass diese übermächtige, perverse Klatsch- und Intrigantenpresse ein Ende findet.

Vielleicht muss ja vieles erst einmal wieder auf Null und unter Kontrolle gestellt werden, damit es sich neu und moralischer wieder aufbauen kann? So sind, ohne sich stark bemühen zu müssen,  ist die "Illusions perdus" auch ein ganz aktueller Spiegel eines zügellosen Gewinnstrebens und einer entfesselten Social-Media-Welt, mit Sabotage, Mobbing, Influenzer-Kommerzprostitution und Fake-News.


Kino: City sowie Arena (auch OmU), Isabella, Theatiner (OmU).

Regie: Xavier Giannoli (F, 144 Min.)

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