"Tschaikowskys Frau": Welche Freiheit hat ein Genie?

Die Zeiten sind anders und sie fühlen sich auch so an: Acht Düsenjäger der französischen Luftwaffe jagen im Tiefflug über Cannes. Aber wer zum Dinner in den engen Altstadtgassen in einem der vielen Nepprestaurants saß, ahne nichts von dieser Hommage an "Top Gun 2" von Tom Cruise und verpasst auch nicht die am Himmel versprühte Trikolore. Und wenn später die Böller des großen Feuerwerks über dem Hafen krachen, , fühlt sich das alles endgültig unangenehm bedrohlich an - in Zeiten des Krieges.
Und so verwunderte es auch nicht, dass nach der Gala zum Film "Tschaikowskys Frau" der Regisseur Kirill Serebrennikov noch mitten im stehenden Applaus vom Festivaldirektor Thierry Frémaux ein Mikrophon in die Hand gedrückt bekam - um genau das zu sagen, was man vom einzigen russischen Regisseur der offiziellen Filmauswahl hören wollte: "Ich bin gegen Krieg!"
Statement gegen den Krieg
Ansonsten ist keine russische Filmdelegation in Cannes zugelassen. Und so verbreitet sich rasend das Gerücht, der anderthalb Tage währende Totalzusammenbruch des Ticketsystems sei ein russischer Hackerangriff, was die Festivalleitung nur insofern bestätigt, als es wirklich ein Hackerangriff gewesen sei. Jetzt, am dritten Festivaltag, gibt es einen neuen Server, der bisher funktioniert.
Serebrennikovs Film wird nun natürlich mit anderen Augen angeschaut, weil Krieg herrscht. Dabei arbeitet der Dissident und Künstler, der lange in Moskau unter Hausarrest stand und seit März fest in Berlin lebt, schon ein knappes Jahrzehnt an der Verwirklichung des Projekts. Ob seine Hauptdarstellerin, die durch viele TV-Serien in Russland bekannte Alyona Mikhailova, in der Heimat verbrannt ist, nachdem sie bei Serebrennikov mitgespielt hat?
In der Pressekonferenz laufen ihr immer wieder Tränen über das Gesicht, während Serebrennikov sich gegen einen Boykott russischer Kultur in dieser momentanen "Katastrophe" ausspricht, weil das doch Wahnsinn sei: "Gerade die russische Kultur ist doch voller menschlicher Werte, traditionell antimilitaristisch und erzählt vom zerbrechlichen Individuum."
Genau deshalb sei sein Film nicht wohl gelitten in Russland: Tschaikowskys Homosexualität - im offiziellen Russland ein gesetzlich verfolgtes Tabu - ist das Thema. Seine spätere Ehefrau, die ihn stalkt, bedrängt und betet, ihn heiraten zu dürfen, zerbricht daran. Dieses grausame Schicksal ist künstlerisch meisterhaft, mit gemäldeartigen Bildern, musikalisch erzählt, ohne viele Worte - und allenfalls mit kleinen Verweisen auf die Gegenwart gewürzt, wenn sich alle öfter die Hände desinfizieren. Und letztlich stirbt Tschaikowsky 1893 an Cholera. Seine Frau überlebt ihn um über zwanzig Jahre, am Ende in einer Nervenheilanstalt.
Gewaltiger Film über Liebeswahn - und die Freiheit des Genies
"Tschaikowskys Frau" ist einfach ein gewaltiger Film über Liebeswahn und die Frage, ob ein Genie einen größeren Freibrief hat, sich menschlich zweifelhaft zu verhalten. Eigentlich kommt die höhere russische Gesellschaft im Film auch relativ liberal rüber - wenn auch vor dem Hintergrund einer Massenarmut und abergläubischen Religion.
Warum er für sein Projekt Geld von Oligarchen angenommen habe, wird Serebrennikov in der Pressekonferenz von einem amerikanischen Journalisten gefragt. "Staatliches Geld habe ich seit Studentenzeiten nicht genommen für meine Projekte", versichert er. Und das Geld von Roman Abramowitsch für den Film? "Ich warne vor einem Boykott dieses Mannes: Ohne ihn gäbe es kein Arthouse-Kino in Russland und er ist einer der wenigen, die eine Schlüsselposition einnehmen könnte, wenn es zum Frieden kommen soll."
So hat der Krieg in Europa große Teile der US-Filmbranche abgeschreckt, an der Croisette aufzuschlagen. Wegen des Kampfs gegen Corona fehlt China weiterhin komplett. Die Deutschen sind fast traditionell nicht im Wettbewerb vertreten. In der Nebenreihe "Un certain regard" läuft "More than ever" der Berlinerin Emily Atef. Das ist vor allem eine französische Produktion, in der deutschen Geld steckt. Das große US-Branchen-Blatt "Screen" widmet sich in seiner großen Cannes-Startausgabe der Filmmarktsituation und zählt die wichtigsten Player auf: natürlich die USA und Großbritannien, denen drei Seiten gewidmet sind. Frankreich bekommt noch anderthalb, Spanien eine halbe - Deutschland fungiert unter dem Kapitel "Rest oft he World", was alles sagt.
Aber auch wenn über Cannes bewundernd spöttisch gesagt wird, es sein ein einziger Filmbazar mit angehängtem Palmenwettbewerb als kulturellem Feigenblatt, ist das nicht ganz richtig, weil die extreme Medienaufmerksamkeit eben dem Roten Teppich und der Feier der "Siebten Muse", des Films gilt.
Hier stehen auch Filme im Rampenlicht, die es an der Kinokasse schwer haben werden - wie der zweieinhalbstündige "Le otto montagne - Die acht Berge": ein Film des belgischen Regieduos Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch, der in den Alpen spielt und die Geschichte einer Freundschaft zwischen einem Stadt- und einem Landjungen erzählt. Der Film handelt von der ökonomischen Chancenlosigkeit, aber auch von der Freiheit des Lebens in den Bergen. Und immer bleibt die Frage, wer von den beiden das Leben mit sich selbst im Einklang gefunden hat. Eine in diesen Zeiten beruhigend unpolitische Geschichte.