Trümmerfilm: Spiegelblick statt Verdrängung

Am 16. März 1946 sind von den einst 6.670 deutschen Filmtheatern (Stand: 1939) kaum mehr welche übrig, alles liegt in Trümmern, Filme müssen in provisorischen Spielstätten vorgeführt werden. Und dennoch ist dieses Datum, nach den verheerenden Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges, auch mit einer vorsichtigen Aufbruchsstimmung behaftet. Jedenfalls für Wolfgang Staudte. Der damals 39-jährige und 1984 verstorbene Filmregisseur hatte kurz nach Kriegsende hastig damit begonnen, ein Drehbuch zu schreiben.
Er wollte sich mit der Kriegsschuld der Deutschen auseinandersetzen und dabei die vom Bombenhagel völlig zerstörte Stadt Berlin als mahnende Kulisse nutzen. In der britischen Besatzungszone hatte sich der findige Sohn des Schauspielerehepaares Fritz Staudte und Mathilde Firmans bereits eine Lizenz für eine Filmgesellschaft organisiert.
Vermögen der reichseigenen Produktionsgesellschaften beschlagnahmt
Ein notwendiges Unterfangen, denn die reichseigenen Produktionsgesellschaften Ufa, Universum Film, Bavaria, Tobis und Terra waren von den Alliierten aufgelöst worden, ihr Vermögen beschlagnahmt.
Staudtes Pläne sollten aber einen herben Dämpfer erleiden, als der US-Kulturoffizier Peter Van Eyck ihn mit seiner Biografie konfrontierte. Staudte war im Dritten Reich auch als Schauspieler tätig gewesen, trat in einer kleinen Rolle sogar in Veit Harlans Propagandafilm "Jud Süß" auf. Ein Mitwirken, für das der "Mitläufer" jetzt aber auch mit seinem eigenen (selbst)kritischen Film Sühne leisten wollte.
Doch van Eyck blieb hart, erklärte den deutschen Film laut späteren Aussagen von Staudte erst einmal für tot. Was blieb, war der Gang in die russische Besatzungszone, wo der Kulturoffizier Major Dymschitz Verständnis für Staudtes Anliegen hatte, dem Dreh noch zwei Monate vor der Gründung der Deutschen Film AG (kurz DEFA) zustimmte. Und so entstanden am 16. März mit den Außenaufnahmen am Stettiner Bahnhof, dem heutigen Nordbahnhof, die Bilder des ersten deutschen Nachkriegsfilms, mit dem sprechenden Titel "Die Mörder sind unter uns".
Trümmerfilm: "Die Mörder sind unter uns"
Eine Ruine war dieser Bahnhof, so wie die ganze Stadt Berlin. Die skelettartig-zerschossenen, in den Himmel ragenden Gebäude sollten nicht nur die Schwarz-Weiß-Ästhetik von "Die Mörder sind unter uns" prägen, sondern rund ein Dutzend weiterer, heute weitgehend vergessener Filme, die nun unter dem Sammelbegriff des "Trümmerfilms" firmieren. Ihnen gemein ist die Dringlichkeit, die deutsche "Stunde Null" filmästhetisch zu dokumentieren, in realen Kulissen eines verwüsteten Landes kleine, gegenwärtige Geschichten von seelisch und körperlich verkrüppelten Kriegsheimkehrern zu erzählen. So wie die von der ehemaligen KZ-Insassin Susanne (Hildegard Knef).
Die junge Frau, die "endlich wieder leben" will, aber nur schwer vergessen kann, findet ihre alte Wohnung besetzt vor: von Hans (E. W. Borchert), einem zynisch gewordenen Chirurgen, der nach seinen Erlebnissen an der Front kein Blut mehr sehen kann und die Menschheit sowieso für nicht kurierbar hält.
Die vorsichtigen, von Misstrauen geprägten Gespräche des schroffen Mannes mit der freundlichen, aber verschlossenen Graphikern hat Staudte symbolisch aufgeladen. Sie stehen stellvertretend für die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges, die nun eine Zweckgemeinschaft mit fragwürdiger gemeinsamer Zukunftsperspektive bilden.
Figur des Hauptmann sticht aus problematischer Nachkriegs-Opferthese heraus
Was "Die Mörder sind unter uns" aber auch heute noch aus der problematischen Nachkriegs-Opferthese herausstechen lässt, ist die Figur des Antagonisten, Hauptmann a. D. Ferdinand Brückner (Arno Paulsen). Der ehemalige Kamerad von Hans ist ein klassischer Kriegsgewinnler, der in einer Fabrik aus ehemaligen Stahlhelmen nun Küchentöpfe herstellen lässt. Ein jovialer, laut Susanne "beneidenswert unverbrauchter" Mann, der sein Pausenbrot ganz entspannt über "Zwei Millionen Menschen vergast"-Zeitungsschlagzeilen vertilgt und nur noch nach vorne schauen will.
Beim geschockten Hans löst die Begegnung mit Ferdinand aber das Gegenteil aus: den Blick zurück, an die Erlebnisse an der Front. Dort war Ferdinand Hauptmann für die Erschießung von 120 Unschuldigen, darunter auch viele Frauen und Kinder, verantwortlich, will davon nun aber nichts mehr wissen: "Es war ja auch Krieg".
Wie in einem Western spitzt sich die Konfrontation der beiden zu, will sich Hans an dem Mörder, von dessen Taten keiner mehr etwas weiß, rächen. Im Showdown taucht wie ein Deus-ex-machina-Effekt plötzlich Susanne auf, verhindert die Selbstjustiz, um die Justiz walten zu lassen. Ein Finale, das so nicht im Drehbuch stand, von der russischen Seite aber auch im Hinblick auf eine Vorbildfunktion der Gerichtsbarkeit verlangt wurde.
Ferdinand Brückner: "Ich bin doch unschuldig!"
Haften bleibt dann auch der Schluss, wie in einer genialen Montage der bereits hinter Gitter sitzende Ferdinand Brückner und sein mantraartiges Flehen ("Ich bin doch unschuldig!") von Staudte mit Massengräbern überblendet wird.
Die für diese Zeit erstaunlich schonungslose Auseinandersetzung mit Themen wie Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe kam bei den Kritikern gut an, machte die spätere "Sünderin" Hildegard Knef sogar sofort zum Star. Aber der Film hatte es beim Publikum nach seiner Uraufführung im Admiralspalast in der Friedrichstraße am 15. Oktober 1946 im sowjetisch besetzten Sektor schwer.
Der eigenen Verantwortung wollte sich der Zuschauer auch nach weiteren Vorführungen im Westen wie im April 1947 in Baden-Baden nicht stellen. "Die Reihe der Zuschauer, die protestierend das Theater verließ, beweist sehr genau, dass der Film unsere geistige Situation widerspiegelt; man sieht nun mal nicht gern in einen so nackten und scharfen Spiegel, sondern setzt lieber eine rosarote Brille auf", kommentierte am 11. September 1948 die Hannoversche Presse.
Das schnelle Verschwinden aus den Kinos hat "Die Mörder sind unter uns" mit einigen anderen Trümmerfilmen gemein, wie Helmut Käutners poetischen, aus der Perspektive eines Autos erzählten Episodenfilm "In jenen Tagen" oder Wolfgang Liebeneiners "Liebe 47", der auf Wolfgang Borcherts Drama "Draußen vor der Tür" beruht.
Helmut Käutner: "Auch die Trümmerfilme wurden eine Masche."
Resigniert musste auch Helmut Käutner, einer der wenigen großen deutschen Filmregisseure, die nicht emigriert waren, einsehen, dass für den sich auf den italienischen Neorealismus eines Roberto Rossellini berufenen "Trümmerfilm" spätestens mit der Gründung der BRD die letzte Stunde geschlagen hatte.
Zuvor hatte auch Billy Wilder - aus den USA zurückgekommen - noch den US-Trümmerfilm "Eine auswärtige Affäre" mit Marlene Dietrich im August 1947 gedreht: eine Komödie! Aber: "Auch die Trümmerfilme wurden eine Masche. Und dann kamen schon sehr bald wieder die Operette und das Volkslied in Gänsefüßchen und der kitschige Schwank. Es wurde eine allgemeine Banalität", lautete später Käutners bitteres Fazit.
Im Nachhinein bleibt vor allem die unglaubliche Leistung von Filmen wie "Die Mörder sind unter uns" bestehen, sich auf künstlerisch hohem Niveau mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen. Unglaublich auch deshalb, weil die Filme zu einem Zeitpunkt entstanden, wo Filmstreifen oft nur auf dem Schwarzmarkt zu finden waren, Scheinwerfer von LKWs abmontiert und Kostüme bei Bekannten geliehen werden mussten, während viele Schauspieler oder Techniker als verschollen galten.
Aus heutiger Sicht entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der - neben Rudolf Jugerts Komödie "Film ohne Titel" - sich an Kinder richtende DEFA-"Trümmerfilm" von Hans Müller aus der Sowjetischen Zone ausgerechnet den Titel "1-2-3 Corona" trug.
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