Timothée Chalamet als „Henry V.“

Timothée Chalamet macht in Venedig die Fans verrückt, begeistert aber als „Henry V.“ die Kritiker weniger
Sandra Prechtel |
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Timothée Chalamet (Mitte) als Henry V. in „The King“.
Netflix/Biennale di Venezia/dpa Timothée Chalamet (Mitte) als Henry V. in „The King“.

Stürmisches Wetter hat die drückende Wärme abgelöst, und in der Nacht am Roten Teppich sorgt der französisch-amerikanische Schönling Timothée Chalamet für viel Wind. Der 24-jährige, der für „Call Me By Your Name“ Oscar-nominiert war, ist ein sympathisches Beispiel für Selbstbewusstsein ohne Allüren. Weil man ihm in der mittäglichen Pressekonferenz zu „The King“ gesagt hatte, dass viele Fans schon seit Stunden vor der Absperrung campieren und auf eine nächtliche Gala-Vorstellung von The King warten würden, kam er schon nach den Journalistenfragen im Casinò runter zum benachbarten Palazzo del Cinema und überraschte die Teenies mit Autogrammen und Selfie-Lächeln.

Der Film, in dem Chalamet King Henry V spielt, ist nicht im Wettbewerb. Aber weil Brad Pitt als Produzent am Lido geblieben ist, außerdem Joel Edgerton, Robert Pattinson und Lilly-Rose Depp mitspielen, versprach man sich eine Attraktion. Doch die Presse nahm „The King“ mau auf, nach dem kleinen Pfeifkonzert, beim Vorspann, der den Film als Netflix-Produktion auswies.

Mit Edward Hopper an der Bar

Regisseur David Michôd ist für die klassischen Palastintrigen, die Schlachtenszenen und Ritterduelle dramaturgisch und szenisch nichts Spannendes eingefallen: stereotype Gesten von Klischeefiguren zwischen Schwertgeschepper und Burgromantik – einziger Blickfang: Timothée Chalamet.

Jede Handlung setzt Bewegung, Entwicklung voraus. Und Entwicklung bedeutet immer irgendeine Art von Sinn. In der Filmwelt des schwedischen Filmphilosophen Roy Anderson gibt es diesen Sinn nicht, und damit auch keine Handlung. In einer aneinandergereihten Folge starrer Einstellungen sitzen Menschen wie eingefroren an Tischen oder wie in einem Gemälde von Edward Hopper an einer Bar.

Roy Anderson hat hier am Lido 2014 den Goldenen Löwen für die skurrile Reflexion „Eine Taube sitzt auf dem Dach und denkt über das Leben nach“ bekommen, und auch in „About Endlessness“ sind Kleidung, Innen- und Stadträume ins Braun-Graue entfärbt. Es ist das krasse Gegenbild zur grellen Farbigkeit der kapitalistischen Warenwelt, in der Anderson als Werbefilmer lange zu Hause war. Unter der bunten Oberfläche aber ist unser sattes Leben entsättigt, weil das, was es lebendig macht, die gelungene Beziehung der Menschen zu einander, verloren gegangen ist. Liebe gibt es nur noch in Form von Gewalt.

Die Erbarmungslosigkeit, mit der Anderson uns mit der dunkelschweren Lebensseite konfrontiert, kennt nur kurze Momente von Erlösung. wenn sich das steife Gebaren der entfremdeten Figuren zu slapstickhafter Groteske steigert. Dann bricht sich kurz ein hysterisch kathartisches Lachen im Kritikerpublikum Bahn. Es bleibt uns nichts als der Versuch, das Leben immer wieder als Geschenk zu begreifen, wie die drei jungen Mädchen, die vor einem Restaurant plötzlich ausgelassen zu tanzen beginnen. Und hier liegt vielleicht der Schlüssel zu Andersons gnadenlosem Blick.

Pietro Marcellos "Martin Eden"

Der vergangene Zweite Weltkrieg ist bei ihm der dunkle Grund, der unter allem liegt. Man sieht das von Bomben verwüstete Köln, die geschlagene deutsche Armee auf dem Weg durch Eis und Schnee nach Sibirien. Die tanzenden Mädchen gehören zu einer heutigen Generation, die dieser Last der Geschichte zumindest für kurze Augenblicke leichtfüßig zu entkommen scheint. Das erste Gesetz der Schwerkraft, so liest es in einer Szene ein Junge einem Mädchen vor, lautet, dass Energie nie verloren geht, sondern sich endlos wandelt. Aber der Film lässt einem nicht viel Hoffnung, dass sich die dunklen Kräfte der Vergangenheit in etwas Helles wandeln lassen.

Gegen diese – auch ästhetische Düsterkeit, setzt der italienische Wettbewerb fast Kitsch: In „Martin Eden“ erzählt der in Italien als neuer Pasolini gefeierte Regisseur Pietro Marcello vom Aufstieg eines jungen Mannes aus einfachsten Verhältnissen, der ganz nach oben will. Und dem das durch radikale Aneignung bourgeoiser Sprache, Kultur und Habitus auch gelingt. Am Ende ist dieser Martin Eden ein gefeierter Schriftsteller, und zugleich ein von Drogen zerstörter desillusionierter Zyniker.

Das Kappen der eigenen Wurzeln

Pietro Marcello hat den gleichnamigen Roman Jack Londons nach Neapel verlegt. Aber nicht in ein Neapel der Gegenwart. Der Film webt die Zeit Jack Londons, das Neapel der 70er Jahre, in dem Marcello aufgewachsen ist, und die Gegenwart so ineinander, dass wir in eine traumhaft-surreale Zwischenwelt geraten. In die oft bis zum Kitsch überstilisierte Kinowelt dieses Regisseurs. Dieser Melancholiker des Kinos macht mit allem italienischen Pathos deutlich, dass im Neapel der Gegenwart die Chancen für ein Kind, den Verhältnissen zu entkommen, nicht größer sind als in Jack Londons Amerika.

Es geht auch darum, wie das Kappen der eigenen Wurzeln, der eigenen Sprache und Kultur den Menschen in die seelische Verlorenheit stürzt, in der wir Martin Eden am Ende sehen. Und dass nur, wenn wir diese Verbindung halten, gute Kunst gelingen kann. Hier gerät der Film in gefährliche Nähe zu einer verklärten Feier des Einfachen, des hart Arbeitenden, des Landlebens.

Wenn wir den muskelbepackten Martin Eden in Großaufnahme vor neapolitanischer Landschaft posieren oder Kühe melken sehen, kann man an einen antiken Helden denken, aber auch an die heroische Ästhetik des Mussolini-Faschismus, dem der Lido seine Festivalpaläste verdankt.

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