Steven Spielberg erteilt mit "Lincoln" eine realpolitische Ohrfeige
Ist es die Masse, die den Verlauf der Geschichte bestimmt, ist es der Zeitgeist, Zufall? Oder sind es doch die großen Männer, Persönlichkeiten, die Geschichte machen – wie Abraham Lincoln (1809 – 1865)?
Während seiner Präsidentschaft (1861 – 1865) lagen die „Vereinigten” Staaten in einem extrem blutigen Bürgerkrieg: der konservativ-demokratisch dominierte, agrarische, konföderierte Süden, der sich wirtschaftlich und gesellschaftlich an die Sklaverei klammerte, gegen den sich industrialisierenden, liberal-republikanischen Norden. Und an der umkämpften Spitze ein Mann mit einer Vision: der Abschaffung der Sklaverei.
Steven Spielberg hat schon mehrfach versucht, mit packenden Monumentalwerken Deutungshoheit über Geschichtsereignisse zu beanspruchen. Und wer seinen Film schlicht „Lincoln” nennt, behauptet das auch für einen der wichtigsten Wendepunkte der US-Geschichte.
Extremschauspieler Daniel Day-Lewis hat sich in die Figur wieder so intensiv hineingelebt, dass man sich in einem fantastisch inszenierten Dokumentarfilm glaubt. Spielberg gelingt so ein spannender, historischer Politthriller, der gleichzeitig Lehrstück der Demokratie ist, dabei irritierender, als man anfänglich glaubt.
Denn Lincoln steckt in einer Zwickmühle: Er braucht für eine Mehrheit auch Stimmen der Opposition und muss noch Abtrünnige aus den eigenen Reihen wieder einfangen. Hinzu kommt, dass er die Abschaffung der Sklaverei nur durchsetzen zu können glaubt, während der Krieg noch tobt. Nach einem sich abzeichnenden Sieg-Frieden über den Süden, wird die Bereitschaft im Kongress sinken, für den Zusatzartikel 13 zur Verfassung zu stimmen. Denn die Abschaffung der Sklaverei ist auch ein extremes politisches Druckmittel gegen den aufständischen Süden, das man nach einem Friedensvertrag nicht mehr so dringend bräuchte.
In dieser schwierigen politischen Gemengelage wird Lincoln als politisches Genie mit Charakter gezeigt – eine seltene Kombination: Denn Lincoln verlängert macchiavellistisch den brutalen Krieg, um das ersehnte Gesetz durchzubekommen, hält Verhandlungsangebote des Südens vor dem Parlament geheim und besticht Oppositionsabgeordnete mit Posten.
Wer sich als Zuschauer auf die geistig träge Haltung zurück zieht, Politik sei ein schmutziges Geschäft und deshalb am besten angewidert zu ignorieren, bekommt hier eine realpolitische Ohrfeige.
Denn gleichzeitig wird Lincoln auch als ein skrupelloser Chrarakter gezeichnet, der sich selbst nicht zu wichtig nimmt, der als Idealist für die wichtige Sache der Politik auch Privatleben und Ehe opfert und selbst auf elegant-hartem Kurs auf Überzeugungstour geht. Und nachts, im Weißen Haus, wenn alles schon schläft, ist er es, der unter kritischer Selbstbefragung über Amtsgeschäften brütet.
Gibt es in diesem packenden, vorbildlichen Geschichts-Porträt auch Störfaktoren? Ja. Die so gern verdrängte Sklaverei wird bequemerweise gar nicht gezeigt. Das erledigt dazu oppositionell und schonungslos zur Zeit Quentin Tarantino mit seinem Western „Django Unchained”. In „Lincoln” dagegen sind selbst die schwarzen Hausbediensteten in einer Art Michael-Jackson-Syndrom möglichst hell gecastet. Und am Ende wird es für uns Europäer doch wieder zu pathetisch amerikanisch-patriotisch. Ein perfekter Weißer-Mittelschichts-Spielberg-Film eben. Was auch als Kompliment gemeint ist.
Kino: Atelier, CinemaxX, Mathäser, Münchner Freiheit, Cinema (OV)
R: Steven Spielberg
(USA, 150 Min.)