Maria Montessori als Film: Ein Interview mit Léa Todorov
Die Pariser Kurtisane Lili d'Alengy befindet sich um 1900 auf dem Höhepunkt ihres Ruhms. Nach dem Tod ihrer Mutter muss sie die Erziehung ihrer behinderten Tochter selbst übernehmen. Um ihren Ruf zu wahren, flüchtet die Halbweltdame nach Rom, wo die junge Ärztin Maria Montessori mit ihrem Lebenspartner ein "Pädagogisches Institut" für behinderte Kinder betreibt. Montessori hat auch eine Methode entwickelt, Kindern mit einer Lernschwäche zu helfen. Diese Geschichte erzählt der neue Film von Léa Todorov.
AZ: Frau Todorov, woran waren Sie mehr interessiert: an der Geschichte einer Frau, die sich in einer Männergesellschaft emanzipiert oder am Konzept der Pädagogin und ihrer Arbeit mit Kindern?
LÉA TODOROV: Bei den Recherchen für meinen Dokumentarfilm "Révolution École" über alternative Bildungskonzepte bin ich auf Maria Montessori gestoßen: eine junge Frau mit sexuellen Wünschen, zerrissen zwischen beruflicher Ambition und privatem Leben. Und dann die Beziehung zu ihrem nichtehelichen Sohn, den sie weggeben musste. Oft wird sie auf einen Sockel gestellt. Das wollte ich nicht.
Was hat Sie mehr angezogen an der Reformpädagogik: Kindern mehr Freiraum zu geben oder das Konzept der Inklusion?
Weder noch. Ich finde nicht, dass ein Kind totale Freiheit genießen sollte. Das ist auch nicht der Kern von Montessoris Pädagogik. Für wichtig halte ich, dass Kinder sich durch den Körper und Bewegung ausdrücken, gerade bei so genannten Behinderten. Unsere Gesellschaft lässt den Zusammenhang zwischen Körpergefühl und Geist oft außer Acht. Was könnten Kinder mit ihren Fähigkeiten, ihrer Kreativität und ihrer Fantasie alles erreichen, wenn man ihnen dazu die Mittel in die Hand gibt? Es gibt Momente im Film, die sich der Erzählung entziehen, beispielsweise wenn die Kinder von allen Zwängen befreit tanzen. Diese Szenen unterstreichen ihre Stärke und treiben die Handlung voran. Nach der Geburt meiner behinderten Tochter habe ich eine starke Sensibilität für dieses Thema entwickelt. Es mangelte mir an kompetenter Hilfe und ich glaubte, nicht genug zu tun. Ich bewundere Maria Montessori für ihren Kampf um die Rechte der Kinder, aber auch um ihr feministisches Denken.
Sie bringen zwei Frauen zusammen: die Ärztin Maria Montessori und eine Pariser Kurtisane. Die eine ist real, die andere eine Fantasiefigur. Der Originaltitel des Films heißt "La Nouvelle Femme", die neue Frau. Was war an diesen Frauen so neu?
In Frankreich nennt man diese Kämpferinnen Anfang des 20. Jahrhunderts "Les Nouvelles Femmes". Im Film prallen zwei gegensätzliche Figuren aufeinander: die feministische Intellektuelle und die sinnesfreudige Kokotte, die sich auf Kosten von Männern durchs Leben laviert. Beide übten auf unterschiedliche Weise Macht aus, versuchten, Konventionen zu überwinden. Beide litten darunter, dass sie sich nicht zu ihren Kindern bekennen konnten. Und beide lernten voneinander, öffneten sich der Sicht auf die Welt der anderen.
Sie repräsentieren ein neues Frauenbild um 1900, hatten Einfluss, wenn auch in unterschiedlichen Kreisen und unterschiedlichem Maß.
Das war eine für Montessori sehr prägende Phase. Sie setzte sich für eine bessere Erziehung der Kinder ein und verteidigte gleichzeitig ihren Status als moderne Frau und Wissenschaftlerin, obgleich ihr ärztlicher Kollege und Partner die Meriten für sich nutzte. Es geht auch um die Mutterschaft im sozialen Wandel: Nicht alle Frauen müssen dem auf biologischen Fakten beruhenden idealen Mutterbild entsprechen, um Empathie zu entwickeln oder Verantwortung für Kinder zu tragen.
Sind Frauen heute besser dran?
Die Situation ist eine andere. Heute quält manche Frauen ein schlechtes Gewissen, sie befürchten, den Ansprüchen nicht zu genügen und sich nicht genug um ihre Kinder zu kümmern. Dabei stehen wir Mütter doch immer unter Strom: die Organisation des Alltags, Beruf, Familie. Die Diskussion darüber ist noch lange nicht vorbei und ein politisches Thema. Natürlich hat sich einiges in den letzten Jahrzehnten positiv geändert, aber die Geschlechterrollen sind immer noch ungleich verteilt. Da liegt noch eine lange und steinige Strecke vor uns. Männer und Frauen verfügen über die gleichen Studienabschlüsse und kaum ist ein Kind da, geht es Rolle rückwärts. Das sehe ich auch in meinem Freundeskreis. In meiner Familie war man schon weiter. Meine Großmutter pfiff auf häusliche Pflichten und schloss ihr Studium ab. Das fand ich toll. Später habe ich gemerkt, dass die Gleichstellung von Mann und Frau in der Praxis doch eine Illusion ist.
Es wird viel über Reformpädagogik geredet. Bieten diese Schulen heute nicht vor allem eine elitäre Erziehung für Sprösslinge von Besserverdienenden und Bessergebildeten? Montessori startete ihre Arbeit dagegen in den Armenvierteln Roms.
Eine bedauerliche Entwicklung! Diese Schulen sollten keine Nische sein. Aber die Prinzipien der Reformpädagogik oder der Alternativen Pädagogik haben teilweise Eingang in öffentliche Schulen gefunden. Leider noch nicht genug. Da gibt es immer noch traditionelle Hierarchien, gibt es Druck, Strafe und sogar Gewalt, wenn Kinder nicht parieren. Es hapert an Liebe und Verständnis zwischen Schülern und Lehrern. Das ist kontraproduktiv und zeigt weitreichende Folgen für die Zukunft. Bei Montessori ist das gegenseitige Verhalten von Respekt geprägt.
Die Montessori-Schulen verzichten auf Noten. Kritiker bemängeln, dass damit ein Scheitern in unserer Leistungsgesellschaft vorprogrammiert sei.
In der Leistungsgesellschaft zählt auch Selbstvertrauen und Selbstständigkeit. Beides wird Kindern und Jugendlichen in Montessori-Schulen mit auf den Weg gegeben. Die Mär vom Scheitern widerlegen berühmte Absolventen wie Amazongründer Jeff Bezos, Bill Gates, Literatur-Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez, Schauspieler wie George Clooney oder Hugh Grant. Vielleicht ist das Montessori-Konzept nicht ideal für alle. Ich schlage nicht die Werbetrommel dafür, sondern erzähle von der Frau, die dahinter steht, einer Frau, deren Maxime es war, Inklusion zu unterstützen, das Leben von Kindern zu verbessern.
Es gibt immer mal wieder Diskussionen über eine rassenideologische Seite dieser Pädagogik, über die Kollaboration mit Mussolini.
Wer so etwas behauptet, sollte erst mal Montessori-Texte lesen. Ich habe da keine Rassenideen gefunden. Während des Faschismus in Italien hat sie weiterhin ihre Schulen für alle Kinder geöffnet. Mein Eindruck ist, dass sie den Faschismus von Innen zerstören wollte und bald auf Distanz ging. Schon während des Ersten Weltkrieges hat sie sich für Frieden ausgesprochen - eine elementare Sache für sie. Man stellt ihre Pädagogik auf den Kopf, wenn man ihr faschistische Ideen vorwirft.
Hitler und Mussolini haben sich Ihrer Ideen bedient.
Dafür sollte man sie nicht verantwortlich machen. Maria Montessoris Ziel war die Veränderung der Welt durch die Transformation der Kinder. Transformation strebten die Diktatoren auch an. Aber bei Montessori sollten sich die Kinder frei entwickeln ohne Unterdrückung: Das ist doch das Gegenteil der faschistischen Indoktrination. Für Montessori gab es kein unwertes Leben. Hätte sie sonst die Inklusion so vorangebracht?
Was ist für Sie die ideale Schule, was die Bedeutung von Maria Montessori heute?
Ihr Konzept: Freiheit statt Disziplinierung. Und: alle Möglichkeiten und Anlagen der Kinder ausschöpfen. Jedes Kind ist anders, ist ein Individuum. Staatliche Schulen müssten daher vermehrt auf die speziellen Bedürfnisse eingehen, den Einzelnen in seinen Fähigkeiten bestärken. Unsere Gesellschaft benötigt Menschen, die Verantwortung übernehmen und gelernt haben, frei zu entscheiden. Dazu benötigt man schon als Kind einen Freiraum, was nicht heißt, wie einige glauben, alles sei erlaubt. Und wir müssen uns ohne Tabu dem Thema Inklusion stellen. Behinderte Menschen darf man nicht ausgrenzen, sondern muss sie integrieren.
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