"Roma": Film mit Gewissen

Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón überzeugt in Venedig mit seinem Sozialdrama "Roma".
Adrian Prechtel |
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Regisseur Alfonso Cuarón mit seiner Hautdarstellerin in "Roma". Für die AZ aus Venedig berichtet Adrian Prechtel.
Carlos Somonte/Netflix Regisseur Alfonso Cuarón mit seiner Hautdarstellerin in "Roma". Für die AZ aus Venedig berichtet Adrian Prechtel.

Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón überzeugt in Venedig mit seinem Sozialdrama "Roma".

Venedig - Er überragt alle. Florian Henckel von Donnersmarck ist schon am Lido, dabei ist sein Löwen-Beitrag erst kommenden Dienstag dran. Er trägt immer ein bescheidenes Lächeln, was vielleicht auch daran liegt, dass er als Zweimeter-Mensch sich gerne etwas zurücknimmt.

Und jetzt, angelandet mit dem Taxischiff im zum Kanal offenen Untergeschoss des Hotels Excelsior muss er sogar den Kopf einziehen, um nicht die Stuckdecke zu streifen. Dabei könnte er ihn stolz hoch tragen, denn gerade hat eine Auswahlkommission sein "Werk ohne Autor" neben andere Filmen als deutschen Beitrag für den Auslands-Oscar nominiert – ein Déja-vu, das schon einmal, 2007 mit dem "Leben der anderen" zum Erfolg führte.

Bisher dominiert im Wettbewerb einer, der bereits 2001 oscar-nominiert war (für das Beste Originaldrehbuch mit "Y Tu Mamá También"), dann einen "Harry Potter" (2004, "Der Gefangene von Azkaban") drehte und fast 10 Jahre später Oscars abräumte mit "Gravity". So einem vertraut man in Hollywood natürlich eine Stange Geld an fürs kommende Projekt.

Auch der neue Film ist ein Kinotraum

Aber nach dem Bullock-Clooney-Weltraumabenteuer "Gravity" hat Alfonso Cuarón jetzt eine Rolle rückwärts gemacht: in seine Heimat Mexiko, in die 70er Jahre, schwarz-weiß, auf Spanisch und ohne Hollywoodschauspieler. Es ist wieder ein Kinotraum – aber ein realistischer. "Roma" erzählt ein Jahr im Leben einer Hausangestellten in einer oberen Mittelklassefamilie. Cuarón lässt keinen Zweifel daran, dass sein Film auch klassenkämpferisch ist. Aber er macht das derart natürlich, neorealistisch, unbelehrend und künstlerisch, dass sich das Unrechtsgefühl beim Zuschauer instinktiv einstellt.

Es ist nicht so, dass die Familie Cleo wirklich schlecht behandelt. Aber allein wie die Kinder mit der Selbstverständlichkeit ihre Regenmäntel nach der Haustür auf den Boden gleiten lassen, wie erwartet wird, dass Cleo als erste aufsteht, das Frühstück macht und nach 16 Stunden nachts das Licht im Hause als Letzte löscht, zeigt einen unhinterfragten, letztlich nicht zu rechtfertigenden Klassengegensatz.

Elegant eingewobene Details für Mexiko-Kenner

Wer sich in der jüngeren mexikanischen Geschichte auskennt, wird noch viele elegant eingewobene Details entdecken: wie den staatlichen Pfründe-Arbeitsplatz beim staatlichen Sozialversorgungsinstitut (IMSS) des Familienoberhaupts, der schon bald von seinen "Dienstreisen" nicht mehr zurückkommt, weil er mit einer jüngeren Geliebten lebt. Die schwangere Cleo hingegen wird von ihrem asozialen Taugenichts verlassen. Und so ist "Roma" auch eine Geschichte über Frauen in einer Männergesellschaft, die sich aber eben – es sind die frühen 70er – beginnen zu emanzipieren.

Und dann gibt es noch eine politische Ebene, weil die Studentenproteste gegen die autoritäre mexikanische Regierung plötzlich blutig in die Handlung hineinspielen und in einem schmutzigen Krieg gegen links niedergeschossen werden. Was Cuarón mit "Roma" zeigt, knüpft an neorealistische Filme wie von Roberto Rosselini an: Wer die Wahrheit ohne erhobenen Zeigefinger kunstvoll zeigt, kann beim Zuschauer ein sensibleres moralisches Bewusstsein erzeugen.

Die Wettbewerbskonkurrenz verblasst

Dagegen verblassen dann ander Filme, auch wenn sie einen stark stilisierten Kunstanspruch haben wie "The Mountain" von Rick Alverson, die Geschichte eines Waisenjungen, der sich dem einem Arzt (Jeff Goldbloom) als fotografierender Assistent anschließt, der seine Mutter lobotomiert hat: alles auf einengend quadratischer Leinwand, jedes Einsamkeitsbild wie ein Edward-Hopper-Gemälde, aber letztlich unbefriedigend rätselhaft.

Und das Bild des englischen Königshofes vor 350 Jahren in "The Favorite" von Yorgos Lanthimos bleibt da auch nur ein schönes, libertinäres Sittengemälde – mit Emma Stone und Rachel Weisz, wobei letztere am Lido gar nicht erst erschienen ist.

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