"Paradies": Eine Frage der Moral

Andrej Konschalowskys Meisterwerk "Paradies" führt in die Hölle der deutschen Geschichte und stellt uns irritierende Fragen.
von  Adrian Prechtel
Prinz Kamenski (Evgeny Ratkov, links), Olga (Julia Vysotskaya) und ihr deutscher Liebhaber (Christian Clauß) in den späten 20ern in der Toskana. Letztere werden sich wiederbegegnen in einer dramatischen Konstellation: Sie als KZ-Insassin – er als SS-Offizier.
Prinz Kamenski (Evgeny Ratkov, links), Olga (Julia Vysotskaya) und ihr deutscher Liebhaber (Christian Clauß) in den späten 20ern in der Toskana. Letztere werden sich wiederbegegnen in einer dramatischen Konstellation: Sie als KZ-Insassin – er als SS-Offizier. © Sveta Malikova

"Paradies" – ein verheißungsvoller Titel. Aber dieser Film wird aus dem elegant-gebildeten Oberschichtsleben wie Gott in Frankreich hinabsteigen in die Hölle der deutschen Besatzung, der KZs, und auffahren in den Himmel oder zumindest einen ähnlichen Ort, einem Ort der Lebensbeichte.
Denn am Ende erleben wir die wunderschöne, ausdrucksstarke Schauspielerin Julia Vysotskaya als Olga ihre Lebensfragen zwischen Liebe und Tod reflektieren und bilanzieren. Dann die gleiche Situation mit Helmut (gespielt von Christian Clauß), Olgas kultiviertem deutschen Geliebten in den schönen Tagen, als sie in Frankreich als reiche russische Emigrantin lebte.

Beide sind Idealisten – mit unterschiedlichen Konsequenzen

Aber er wird nach ihrer Liebesgeschichte SS-Offizier, der das arische "Paradies" auf Erden schaffen will und dafür in den Untergang geht. Beide – sie und er – sind Idealisten: Sie folgt irritierend konsequent und mutig der durch die Geschichte moralisch geforderten Menschlichkeit. Er folgt nach Jahren des süßen Lebens der ideologisch-konsequenten, unmenschlichen NS-Reinheitsideologie, die ihn bis zum mit allen Vollmachten ausgestatteten Antikorruptionsbeauftragten Himmlers macht. Im KZ werden sie sich wiedersehen – getrennt durch die hier hart verlaufende Täter-Opfer-Linie.
Und ein Dritter legt am Ende – vor Gott, sich und den Menschen – Zeugnis ab, einer, der es sich und seiner Familie paradiesisch gut gehen lassen wollte: Jules (Philippe Duquesne), Familienvater, hoher Polizeibeamter beim mit den deutschen Besatzern kollaborierenden französischen Vichy-Regime: ein menschelnd-korrupter, ideologiefreier Karrierist, Vorteilshascher, Schreibtischtäter und damit die gefährliche Durchschnittsmenschenfigur, der Olga wegen des Versteckens zweier Judenkinder verhaften lässt.

"Paradies" ist ein in jeder Hinsicht besonderer, fesselnder, kunstvoll erzählter und zum Nachdenken zwingender Film von Andrej Konschalowsky. Der russische Film- und Opernregisseur zwischen Hollywood, Westeuropa und Russland hat "Paradies" in leuchtendem Schwarzweiß gedreht und das Breitwand-Bildformat etwas kompakter gemacht, was dieses Kammerspiel-Drama ohne Massen- oder Massakerszenen ästhetisch historisiert. So wird der Zuschauer etwas wegge-, fast entrückt. Aber genau so schauen wir dann – durch die Macht der Bilder, den harten moralischen Fragen, der hier an drei Lebenswegen erzählten Zeitgeschichte – umso genauer hin. Dabei verschwimmen gewohnte Klischees: Der Nazi ist kein dumpf-brutaler Scherge, der es einem leicht machen würde, ihn abstoßend zu finden. Die Frau ist in ihrer Kühle gar nicht die klassische Sympathieträgerin, und ihre menschlichen Entscheidungen sind unideologisch instinkthaft, aber genau dadurch unkorrumpierbar, als ob eine Grundmenschlichkeit eben doch angeboren ist. Und sind wir nicht alle auch leicht korrumpierbar und angepasst bequem wie der französische Polizeichef?

Etwas von diesen drei Figuren trägt jeder von uns in sich

Das ist das große psychologische Geheimnis dieses großen Menschlichkeitsdramas: Es ist in der zugespitzten Situation zwischen den 20er Jahren und 1945 angesiedelt, weil hier die moralischen Herausforderungen klarer hervortreten. Aber wir alle tragen die drei Figuren in uns, weil wir unser kleines Lebens- und manchmal auch das Weltparadies mit sich widersprechenden Ingredienzien herstellen wollen: Sicherheit und Ordnung, Verantwortung und Menschlichkeit einerseits und berechtigter Wunsch nach Lebensgenuss andererseits. In diesem Dreieck muss jeder auch in den heutigen Lebens- und Gesellschaftsfragen eine anständige Balance finden.


B&R: Andrej Konschalowsky (F,D 130 Min.)
Kinos: Arena, City

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