Oscarnominierter Animationsfilm "Wolfwalkers": Wunderbare Begegnungen

Mythen, Mischwesen, Metamorphosen: Mit seinem neuen bildschönen Animationsfilm "Wolfwalkers" ist das irische Produktionsstudio Cartoon Saloon erneut für einen Oscar nominiert.
von  Michael Stadler
Freundinnen fürs Leben: Das wilde Wolfsmädchen Mebh (links) und Robyn mit ihrem Falken Merlyn. . Foto: Cartoon Saloon/Apple
Freundinnen fürs Leben: Das wilde Wolfsmädchen Mebh (links) und Robyn mit ihrem Falken Merlyn. . Foto: Cartoon Saloon/Apple © Cartoon Saloon/Apple

Das Mädchen soll innerhalb der Stadtmauern bleiben, ja, sie soll den ganzen Tag lang drinnen im Haus aufräumen und putzen. Das Gefängnis, in dem sie sitzt, hat dabei eine Schutzfunktion, denn jenseits der Mauern lauern einige Gefahren, nein, keine Viren, sondern die wilde Natur und vor allem: Wölfe.

Animationsilm "Wolfwalkers" betreibt Imagepflege für Wölfe

Dass diese Tiere mit dem Bösen in Verbindung stehen, findet sich in diversen Mythen und Märchen wie "Rotkäppchen" wieder. Der Animationsfilm "Wolfwalkers" aber betreibt Imagepflege, kehrt die Verhältnisse sogar um: Wenn man sich den Wölfen friedlich nähert, zeigen sie ihr gutes Wesen. Als sozial gesinnte Tiere finden sie sich im Rudel zusammen, während die Menschen in der Stadt unter einem autoritären Regime leiden, das sie unterjocht und eine Gemeinschaft kaum entstehen lässt.

Im Jahre 1650, in der Stadt Kilkenny und ihrer Umgebung lassen Tomm Moore und Ross Stewart ihren Animationsfilm "Wolfwalkers" spielen, in einer Zeit also, als die Engländer sich Irland zurückerobert hatten und sich dort mächtig breit machten. Der grimmige "Lord Protector", der in dem animierten Kilkenny mit strengem puritanischem Glauben regiert, ist Oliver Cromwell nachempfunden, der in der Friedensperiode nach den Bürgerkriegen das Commonwealth of England unter seiner Fuchtel hatte.

Film mit ökologischer Botschaft

Robyn, das elfjährige Mädchen, das zu Hause als Putzkraft bleiben muss, und ihr Vater Bill Goodfellowe sind frisch aus England angekommen und fühlen sich im bislang katholischen Kilkenny als Außenseiter. Der Papa soll für den Lord Protector draußen im Wald für Ordnung sagen, indem er Fallen für die Wölfe aufstellt und sie mit der Armbrust niederstreckt. Gleichzeitig fällen andere Untertanen die Bäume, um Platz für den Ausbau der Stadt zu schaffen. Die Harmonie der Natur, mit realistischer Soundkulisse und einigen Tieren zu Beginn eingeführt, wird jäh durch den Lärm der Waldarbeiter unterbrochen.

Der Film macht seine ökologische Botschaft sofort klar - der Mensch stört und zerstört mit seinem Zivilisationsdrang die Natur - und führt mit Robyn eine sehr junge Protagonistin ein, die sich gegen die Autoritäten bemerkenswert selbstbewusst auflehnt. So herzlich ihr Verhältnis zum Vater ist, so wenig lässt sich Robyn daheim festhalten. Heimlich macht sie sich auf, die Welt hinter den Stadtmauern zu erkunden, landet in dem formenreichen, betörend schönen Wald und macht die Bekanntschaft eines anderen Mädchens, dessen wallende rote Haarmähne bereits seine ungezähmte Natur ahnen lässt.

Die "Wolfwalkers": Mischwesen aus Wolf und Mensch

Mebh Óg MacTíre heißt der Wildfang, mit dem Robyn sich nach einiger Zeit anfreundet. Mebh ist eine der letzten "Wolfwalkers", ein Mischwesen, das sich zwischen den Welten bewegt. Während sie tagsüber als kleines Kind erscheint, legt sie nachts im Schlaf ihre menschliche Form ab, um als Wölfin mit dem Rudel durch den Wald zu jagen. Als Robyn von Mebh gebissen wird, verwandelt sie sich ebenfalls in einen "Wolfwalker" - der Mythos des Vampirs mischt sich dabei in das wild fabulierende Mythen-Gespinst des Films.

Nachdem sie herausfindet, dass Mebhs Mutter in ihrer wölfischen Form vom Lord Protector in einem Käfig gefangen gehalten wird, macht Robyn sich auf, diese zu befreien. Beim Hin und Her zwischen Wald und Stadt bekommt sie es dabei immer wieder mit ihrem Vater zu tun, der seine Tochter gerade nach dem Tod der Mutter umso mehr beschützen will und sie doch nur in ihrem ehrenwerten Anliegen aufhält. Die Eltern haben also einiges in diesem Film von den Kids zu lernen; ein Hauch des "Fridays for Future"-Rebellionsgeistes weht durch das Kilkenny von 1650.

Zeichtrickteam ließ sich vom 17. Jahrhundert inspirieren

Die visuellen Vorbilder des Films liegen jedoch weit zurück. Gerade, was die Darstellung der Stadt angeht, ließ sich das Zeichentrickteam um Tomm Moore und Ross Stewart von irischen Holzschnitten aus dem 17. Jahrhundert inspirieren. Angesichts der computeranimierten 3D-Welten, die wir heute gewohnt sind, wirkt die Animation daher überraschend flächig, was aber zu der restriktiven Enge, die hier dargestellt werden soll, sehr gut passt. Im Kontrast zu den strengen Linien der Stadt ist die Natur von fließenden Formen bestimmt. Die Linien kringeln und winden sich, bilden Spiralen und Kreise. Statt Grau herrschen hier warme Orangetöne vor, Blätter liegen auf dem Boden, der Film spielt im Herbst.

Dritter Teil einer Trilogie

"Wolfwalkers" ist der dritte und letzte Teil der "irischen Trilogie" des in Kilkenny beheimateten Produktionsstudios Cartoon Saloon. Die Animationskünstler um das Gründungsteam Tomm Moore, Nora Twomey und Paul Young fühlen sich dem traditionellen Zeichentrick verpflichtet und kombinieren auf originelle Weise klassische Techniken mit moderner Computeranimation. So wurden die Figuren und Szenen von "Wolfwalkers" mit der Hand gezeichnet, bevor sie gescannt und digitalisiert wurden. Die Hintergründe wurden mit Aquarell gemalt, danach mit Photoshop bearbeitet.

Das Prinzip Cross-Over zieht sich sowohl inhaltlich als auch visuell durch die Trilogie: "Das Geheimnis von Kells" (2009), der erste, von Tomm Moore und Nora Twomey inszenierte Spielfilm des Studios, orientiert sich von seinem Zeichenstil an dem legendären "Book of Kells", einem mittelalterlichen, üppig-bunt illustrierten keltischen Manuskript, das die vier Evangelien beinhaltet, und spielt im 8. Jahrhundert. Auch hier erweist sich ein Kind als gewiefter Grenzgänger: Der zwölfjährige Brendan muss die Mauern der Abtei Kells, von seinem Onkel zum Schutz vor den Wikingern gebaut, überwinden, um unter anderem im Kontakt mit Waldgeistern dafür zu sorgen, dass das "Book of Kells" vollendet wird.

Immer an den historischen Kontext angepasst

In "Die Melodie des Meeres" (2014), entstanden unter der alleinigen Regie von Tomm Moore, lebt der zehnjährige Ben mit seinem alleinerziehenden Vater und seinem Hund auf einer einsamen Insel und findet heraus, dass seine kleine Schwester ein Mischwesen zwischen Mensch und Seehund, ein sogenannter "Selkie" ist. Auch hier widersetzt sich ein Kind, das (Gott sei Dank) noch nicht die Pubertät erreicht hat, der Autorität eines männlichen Verwandten und gerät in mystische Welten, die nach eigenen Regeln funktionieren und in denen Mensch-Tier-Metamorphosen zur Tagesordnung gehören.

Letztlich setzt sich die Natur gegenüber der Zivilisation, der Freiheitsdrang der Kinder gegen die Restriktionen der Erwachsenen durch. Entsprechend wird der Fantasie in den Filmen von Cartoon Saloon bei allem Traditionsbewusstsein beachtlich freien Lauf gelassen. Im Gegensatz zu Disney und Co. sind die Animationen variabler, mal kantig, mal fließend, keltisch verschnörkelt, zweidimensional, vieldimensional, im Stil immer angepasst an den historischen Kontext, in dem die Geschichten spielen.

Irischer Animationsfilm ist für einen Oscar nominiert

"Wolfwalkers" wurde am letzten Wochenende in Los Angeles mit fünf Annie Awards, unter anderem für die beste Regie, ausgezeichnet und ist wie die beiden ersten Filme der Trilogie für einen Oscar nominiert. Ob Tomm Moore und Ross Stewart sich mit ihrem Team gegen Pixars "Soul" durchsetzen werden, ist zwar fraglich, aber ihr wunderschön animierter Film plus ökologischer Botschaft und jungen, mutigen Heldinnen ist ein gemeinsames Anschauen im Kreis der Familie auf jeden Fall wert.


"Wolfwalkers" ist abrufbar auf Appleplus. Abonnenten von Amazon Prime können "Das Geheimnis von Kells" sowie "Die Melodie des Meeres" in der deutschen Fassung kostenlos abrufen. Die Oscar-Verleihung wird kommenden Sonntag spät nachts von Pro7 im Livestream übertragen.

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