Nur wild geträumt
Lediglich für Fans des Musicals: Das für acht Oscars nominierte Drama „Les Misérables”
Tiefer als Fantine kann man nicht mehr fallen. Um ihr uneheliches Kind mit lebenswichtiger Medizin zu versorgen, opfert sie für Geld alles, was ihr noch bleibt: ihr innig geliebtes Medaillon, ihre langen schwarzen Haare, ihre Backenzähne und – als Zwangsprostituierte – auch ihren Körper. Als die Männer endlich von der Abgemagerten ablassen, singt sie in einem sargähnlichen Holzkasten im schmuddeligen Hafenbezirk immer noch ihr verzweifelt-nostalgisches Klagelied „I Dreamed A Dream”, in dem Fantines unerfüllte Hoffnungen und ihr ganzes Elend spürbar werden.
Mit welcher Inbrunst und Verletzlichkeit Anne Hathaway hier spielt und schluchzt, ist oscarwürdig. Gleichsam macht diese berührende Sequenz aus der Musical-Verfilmung „Les Misérables” noch einmal klar, dass es kein Zufall war, warum Susan Boyle 2009 genau mit diesem Song zum Castingshow-Star wurde. Denn den anderen Nummern aus dem zwischen 1815 und 1832 in Frankreich spielenden Bühnenhit fehlt es an dieser Einzigartigkeit.
Einen Vorwurf muss sich hier auch Regisseur Tom Hooper („The King’s Speech”) gefallen lassen. Sein Anspruch, die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Abgründe von Restauration bis Revolution realistisch darzustellen, geht trotz akurater Ausstattung und nüchterner Bildsprache nicht auf.
Zu künstlich wirkt es, wenn die allesamt live singenden Darsteller ihre Solostücke gegen imaginäre Wände performen. Zu verheddert ist der auf Victor Hugo basierende Plot, in dem das packende Duell des ehemaligen Sträflings Jean Valjean (Hugh Jackman) und des ihn jagenden Inspektors Javert (Russell Crowe) immer mehr in den Hintergrund rückt. Figuren wie zwei überdreht-fiese Taschendiebe tauchen aus dem Nichts auf, ohne dass ihre Funktion für die Handlung richtig erklärt wird.
So verlieren Nicht-Musicalkenner in der überlangen, komplett durchgesungenen und im Fall von Crowe durchgekrächzten Filmversion bald den Überblick und den emotionalen Zugang. Aber für sie war „Les Misérables” wohl auch nicht gedacht.
Kino: Arri, Cadillac, Cinema, CinemaxX, City, Gloria, Mathäser, Münchner Freiheit, Rio, Royal
R: Tom Hooper (GB, 158 Min.)