Neu im Kino: "Ein ganzes Leben"

Als "kleines literarisches Wunder" wurde "Ein ganzes Leben", der fünfte Roman von Robert Seethaler, bei seiner Erstveröffentlichung 2014 gelobt. Nur 185 Seiten umfasste das Büchlein, wurde in 40 Sprachen übersetzt und im deutschsprachigen Raum über 1,1 Millionen Mal verkauft.
Jetzt hat Hans Steinbichler die Geschichte des Andreas Egger verfilmt und hält sich nahe an den Roman, auch wenn die chronologisch aufgebaute Erzählung von der Vorlage abweicht. Es beginnt mit einer schrecklichen Kindheit, wie man sie sich heute nicht mehr vorstellen kann: Der Waisenjunge, ein "Bankert", wie man damals die unehelichen Kinder nannte, wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Bauernhof seines Onkels auf.
Eine billige Arbeitskraft, die getrennt von den anderen in einer Ecke essen muss und vom cholerischen Kerl ständig verprügelt wird. Einmal bricht er ihm sogar den Oberschenkel. Nur bei der alten Ahnl (Marianne Sägebrecht) erfährt der Bub so etwas wie Zuneigung und Schutz, sie tröstet ihn: "Das wächst sich aus. Wie alles im Leben."
Als sie mit dem Gesicht im Backteig stirbt, ist das eine Zäsur für den inzwischen 18-Jährigen. Er verlässt mutig den Hof, schlägt sich als Tagelöhner durch, verdingt sich bei einer Seilbahnbaufirma. Dass er hinkt, lässt er nicht gelten: "Es gibt keinen besseren Arbeiter als mich! Am Berg bin ich der Einzige, der gerade geht". Sein Erspartes steckt er in eine einsame Berghütte. Und dann geschieht ein Wunder.
Der Einzelgänger, der sein Bier alleine in der Wirtschaft trinkt, verliebt sich in das schönste Mädchen der Welt, die Kellnerin Marie (Julia Franz Richter). Nur ein kurzes Glück, die Schwangere wird in der Berghütte von einer Lawine verschüttet, ihr Mann so schwer verletzt, dass er sich mit Krücken zur Beerdigung schleppen muss. Der Egger ist einer, der das Schicksal hinnimmt, ohne zu verzweifeln und sich nicht auflehnt. Einer, der sich nicht beklagt und der das Unheil irgendwie überlebt. So wie den Zweiten Weltkrieg als Soldat und die Gefangenschaft, die aber nur am Rande vorkommen.
Als der Endvierziger dann 1951 zurückkehrt, macht er weiter wie immer im Einklang mit sich selbst. Es kommt ihm nicht in den Sinn, das Tal zu verlassen. Und er schreibt Briefe an seine große Liebe, die er durch einen Schlitz in den Sarg steckt. Ein Kniff, um die Innenansicht des sehr schweigsamen Helden nach außen zu bringen. Steinbichler, der mit "Hierankl" erfolgreich seine Regiekarriere startete, folgt den Lebensstationen dieses genügsamen Mannes.
Über fast acht Jahrzehnte spannt sich der Bogen dieses Heimat- und Bergfilms, der nichts mit Kitsch und Almgedudel zu tun hat, auch wenn der Soundtrack manchmal sehr pathetisch klingt. Der Rückblick auf ein Jahrhundert voller Veränderungen handelt nicht nur von Einzelschicksalen, sondern vom gesellschaftlichen Wandel und ist gleichzeitig ein Ausblick auf das, was so genannter Fortschritt bedeuten kann, nämlich Zerstörung der intakten Umwelt durch Touristenmassen, die die Seilbahn auf die Berge und Geld in die Gegend bringt.
Mit der Besetzung gelang Steinbichler ein toller Coup. Der Österreicher Stefan Gorski ist das Gesicht des Films, der die Figur im Alter von 18 so perfekt verkörpert wie später den gebrochenen Russlandheimkehrer, ideal besetzt ist August Zirner in den letzten 25 Filmminuten als alter und nachdenklicher Einsiedler, der trotz aller Nackenschläge dem Leben noch etwas abgewinnen kann und zufrieden zurückblickt.
Das bildgewaltige Epos fasziniert mit einer majestätischen wie bedrohlichen Bergkulisse, in der Menschen wie Spielzeug durcheinandergewirbelt werden und der Tod immer präsent scheint. Allein die wuchtigen Naturaufnahmen durch die vier Jahreszeiten in ihren typischen Farben (gedreht wurde in Ost- und Südtirol sowie Bayern) sind ein Traum.
R: Hans Steinbichler (D, A 116 Min); K: ABC, Cadillac, City Atelier, Monopol, Rio