Neu im Kino: "Das schweigende Klassenzimmer" in der AZ-Filmkritik

Sie wollten eigentlich nur im Kino den nackten "weiblichen Tarzan" sehen: die Skandal umwitterte "Liane, das Mädchen aus dem Urwald". Deshalb fuhren die DDR-Abiturienten Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz) 1956 von Eisenhüttenstadt, die jetzt Stalinstadt hieß – nach Westberlin – damals noch nicht durch eine Mauer abgetrennt.
In der West-Wochenschau sehen sie Berichte vom antisowjetischen Aufstand der Ungarn: Keine Konterrevolutionäre, wie man ihnen in der DDR eintrichtert, sondern Bürger die sich gegen die kommunistische Regierung und die sowjetische Besatzungsmacht auflehnen. Nach ihrer Rückkehr überzeugen sie ihre Klassenkameraden zu einer Schweigeminute für die Opfer.
"Wer nicht für den Sozialismus ist, dem hau ich in die Fresse!"
Was ohne große ideologische Überlegungen begann, provoziert den rigiden Staatsapparat zum überdrehten Gegenschlag.Die Angelegenheit schaukelt sich hoch, sogar der Volksbildungsminister (Burghart Klaußner
Es gibt Filme, die muss man sehen, weil sie einfach umhauen, Hirn und Herz berühren und aus dem Einerlei des deutschen Komödien- oder Betroffenheitskinos herausragen. Lars Kraume ("Der Staat gegen Fritz Bauer") ist dieses Kunststück nach der Buchvorlage von Dietrich Garstka, einem der 19 Schüler, gelungen.
In seiner wuchtigen Intensität erinnert der Film über den Mut junger Menschen in der DDR manchmal an Peter Weirs "Der Club der toten Dichter". Spannend und emotional mitreißend fiktionalisiert Kraume die wahre Geschichte von Solidarität und kleinem Widerstand, Freundschaft und Familie, Moral und unbändiger Kraft der Jugend. Genau gezeichnet die Kontroversen und Hauptfiguren: Theo, dessen Vater wegen Systemkritik zur Arbeit im Stahlwerk verdonnert ist, hofft mit einer Notlüge aus dem Schlamassel herauszukommen, Funktionärssöhnchen Kurt dagegen steht aufrecht zur politischen Kritik.
Den Außenseiter Erik, der an das Regime glaubt, verkörpert Jonas Dassler, dafür ausgezeichnet mit dem Bayerischen Filmpreis. Bei der Besetzung der Erwachsenen dominieren in der ehemaligen DDR geborene Schauspieler wie Roland Zehrfeld, Florian Lukas oder Jördis Triebel. Und Michael Gwisdek als schwuler Freidenker, der den Feindsender RIAS hört und die Jungs und Mädels unterstützt, ist immer eine Bank. Atmosphärisch dichtes und aktuelles Herzschlagkino. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.
Kino: Mathäser, City, Münchner Freiheit, Monopol R: Lars Kraume (D, 111 Min.)
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