Netflix-Kritik zu "Die Ausgrabung": Beben im Inneren des Forschers

Die Zeit hat ihre Bedeutung verloren", soll der britische Archäologe Howard Carter gesagt haben, als er 1922 im Tal der Könige vor dem nahezu unberührten Grab vom Tutanchamun stand. Seine von Überwältigung und Demut geprägte Aussage treibt 17 Jahre später auch Basil Brown (Ralph Fiennes) um, als er in Sutton Hoo nach Überbleibseln aus der britischen Vergangenheit gräbt.
Netflix-Drama "Die Ausgrabung" basiert auf wahren Ereignissen
Zeit hat für den Archäologen aber gleich eine andere, drängendere, Bedeutung, als er von kiloschweren Erdbrocken restlos verschüttet wird. Wie gut, dass Edith Pretty (Carey Mulligan), die Besitzerin dieses Landguts nahe der Region Suffolk gleich zur Stelle ist, um Basil mit Unterstützung einiger Helfer buchstäblich aus der Erde zu buddeln und ihm damit das Leben zu retten. Seine "Ausgrabung" zählt den wenigen actionlastigen Szenen des gleichnamigen, auf wahren Ereignissen beruhenden Dramas von Simon Stone.
Aus- und umgegraben werden in diesem bedächtig erzählten, psychologisch stimmigen Schauspielerfilm eher die verschütteten Gefühle seiner Figuren. Und dass diese Traumata so lange im Verborgenen blieben, hat seine Gründe. Basil, dieser Pfeife rauchende Miesepeter wird von seiner snobistischen Akademiker-Bekanntschaft trotz seiner offensichtlichen Expertise nicht als ernstzunehmender Archäologe angesehen, da der Bauernsohn von der Schule bereits mit zwölf Jahren abgegangen ist.
Mit dabei: Carey Mulligan und Ralph Fiennes
Seine seelischen Erschütterungen teilt er mit der blassen Edith, für die er anfangs aufgrund einer mäßigen Bezahlung gar nicht arbeiten will. Denn Edith, die bereits kurz nach der Geburt ihres aufgeweckten Sohnes Robert (Archie Barnes) ihren Mann verloren hat, wollte in jungen Jahren die Welt entdecken, studieren, was ihr als Frau aber nicht gestattet wurde.
Die Suche nach Anerkennung, nach einem Sinn im Leben führt die beiden kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, der wie eine dunkle Wolke über dem bildgewaltigen Film hängt, dann zusammen, ohne dass daraus eine klassische Romanze entspringt. Edith Pretty, die in Wirklichkeit 20 Jahre älter als die Schauspielerin Carey Mulligan war, weiß, dass ihr angegriffenes Herz dem Alltagsstress nicht mehr lange gewachsen ist. Basil spürt diese Schwäche und kümmert sich liebenswürdig um ihren Robert, im Wissen, dass dieser Junge wohl bald weder Mutter noch Vater haben wird.
Ausgrabung zählt zu bedeutendsten Funden der britischen Geschichte
Kraft und Zuversicht tanken Edith und Basil aus ihren Ausgrabungen, die heute zu den bedeutendsten Funden der britischen Geschichte zählen. Als die Überreste des angelsächsischen Schiffs aus dem 7. Jahrhundert erstmals zu sehen sind, leuchten die Augen von Basil, bebt es im Inneren des Forschers, der in der Archäologie eine Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart sieht.
Und als dieser Eigenbrötler ganz allein am Ufer seinen Triumph genießt und sich von der Seite langsam ein Fischerboot ins Bild schiebt, Traum und Wirklichkeit verschwimmen, dann findet Stone eine starke visuelle Entsprechung für Basils zeitlose Entdeckung.
Später, als der Fund nicht mehr geheim zu halten ist, die Figuren und Erzählstränge zunehmen, zerfasert Stones poetischer, von einer melancholischen Schwermut durchzogener Film ein wenig, bleibt damit aber auch der Romanvorlage von John Preston treu.
Der Autor wollte mit seiner Geschichte nicht nur Basil und Edith, sondern auch seine Tante ehren, die populäre britische Archäologin Peggy Piggott (Lily James). Sie zählte zu den ersten, die bei den Ausgrabungen dabei sein durften, auch wenn der nicht immer historisch akkurate Film in Person des sexistischen Leiters des British Museums (Ken Stott) behauptet, dass ihr geringes Gewicht und nicht die fachliche Qualifikation dabei der springende Punkt war.
Feinsinniger Film über archäologische Meisterleistung
Um die unglückliche Peggy entspinnt sich bald ein Liebesdreieck mit dem Cousin (Johnny Flynn) von Edith als möglichem Lover, weil der frisch angetraute Ehemann (Ben Chaplin) dann doch dem männlichen Geschlecht nähersteht. So schade es auch ist, dass der gewohnt großartige Ralph Fiennes an den Rand des niemals ins vordergründig Sentimentale abgleitenden Dramas gedrängt wird, so entspricht diese erzählerische dann auch seiner historischen Bedeutung.
Denn erst Jahrzehnte nach Bekanntwerden der Ausgrabung wurde der Name Basil Brown überhaupt mit dem Schiffsgrab assoziiert. Ein Fehler, den nun auch dieser feinsinnige Film korrigiert und damit die Verbindung seines Namens über Basils Tod hinaus mit der archäologischen Meisterleistung sicherstellt.
"Die Ausgrabung" ist ab dem 29. Januar auf Netflix zu sehen. Simon Stone probt derzeit im Residenztheater "Unsere Zeit" nach Motiven von Ödön von Horváth. Der Premierentermin steht noch nicht fest.