Kritik

Narcoboss wird zur Frau: Jacques Audiard erzählt es als ganz großes Kino mit "Emilia Perez"

Ein wilder Film, dessen Charme man erliegt: "Emilia Perez" ist zugleich Thriller, Drama und Musical und hat jetzt gleich fünf Europäische Filmpreise abgeräumt
Adrian Prechtel
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Führt uns mit ihrem Gesicht und Können vom Schock zur Sympathie: Karla Sofía Gascón als Drogenboss und Emilia Perez.
Neue Visionen / Wild Bunch 5 Führt uns mit ihrem Gesicht und Können vom Schock zur Sympathie: Karla Sofía Gascón als Drogenboss und Emilia Perez.
Eine Anwältin, die den Pakt mit dem Teufel eingeht und dann versteht, was der Teufel wirklich will: Zoe Saldaña als Rita (re.) mit Emilia Perez.
Neue Visionen / Wild Bunch 5 Eine Anwältin, die den Pakt mit dem Teufel eingeht und dann versteht, was der Teufel wirklich will: Zoe Saldaña als Rita (re.) mit Emilia Perez.
Jacques Audiard, der 72-jährige französische Regisseur.
Neue Visionen / Wild Bunch 5 Jacques Audiard, der 72-jährige französische Regisseur.
Emanzipiert sich, nachdem ihr Mann für tot erklärt wird: Selena Gomez als Frau des Drogenkartellbosses.
Foto: Neue Visionen / Wild Bunch 5 Emanzipiert sich, nachdem ihr Mann für tot erklärt wird: Selena Gomez als Frau des Drogenkartellbosses.
Karla Sofia Gascon bei der Verleihung des 37. Europäischen Filmpreises 2024 im Kultur- und Kongresszentrum Luzern.
IMAGO/Sebastian Gabsch (www.imago-images.de) 5 Karla Sofia Gascon bei der Verleihung des 37. Europäischen Filmpreises 2024 im Kultur- und Kongresszentrum Luzern.

Sie ist die Frau fürs Grobe, aber nicht völlig ohne Moral - und in harte, politische Prozesse eingebunden. Auf der Anklagebank: die Korrupten und Reichen. Rita (Zoe Saldaña) ist eine junge Anwältin: cool, eloquent, intelligent. Sie tippt in selbstausbeuterischen Nachtüberstunden die Plädoyers, die ihr Chef dann hält und für die er Ruhm und Spitzenhonorare einheimst. Sie will auch ins Rampenlicht - und wird entführt. Was in Mexiko das Todesurteil sein kann.

Ein Gesicht und Körper, die von Gewalt und Kaltblütigkeit erzählen

Schon die Filmmusik zu Beginn - verhallt, sphärisch, mit einem verzerrten Frauenstimmenchor - hatte subtil Thriller-Atmosphäre verbreitet. Und dann, am Ende der Fahrt aus Mexiko-Stadt ins Ungewisse des nächtlichen Niemandslandes, sitzt sie ihm gegenüber: dem bestgeschützen Mann Mexikos. Einem Mann, der alles weiß, auch über sie, der Dutzende hat ermorden lassen und schuld ist am Tod von Hunderten, vielleicht Tausenden. Es ist Manitas, der Drogenkartell-Mafiaboss, dessen abgründig brutales Gesicht, dessen Tattoos an Hals und Armen die ganze Geschichte von Gewalt und Kaltblütigkeit erzählen.

Jacques Audiard, der 72-jährige französische Regisseur.
Jacques Audiard, der 72-jährige französische Regisseur. © Neue Visionen / Wild Bunch

Aber noch wenige Minuten zuvor hatte man mitgerissen fast mitgetanzt, als Rita auf dem Nachhauseweg in eine abendliche Demonstration gerät, durch einen wilden Straßenmarkt schlendert. Denn Jacques Audiards Film ist auch ein Musical. Wobei der Übergang von Spielfilm-, Tanz- und Singszenen so elegant fließend geschieht, so unwahrscheinlich natürlich, dass Witz, Dramatik und Emotionalität noch gesteigert werden. Die Musical-Elemente verlangsamen nicht, befremden nicht. Im Gegenteil, wir glauben diesem charmanten, spannenden, schillernden Film zwischen Popcorn und Atem-Anhalten einfach alles in einer fantastischen, bizarren Geschichte. Das ist größtmögliche Filmkunst.

Eine Anwältin, die den Pakt mit dem Teufel eingeht und dann versteht, was der Teufel wirklich will: Zoe Saldaña als Rita (re.) mit Emilia Perez.
Eine Anwältin, die den Pakt mit dem Teufel eingeht und dann versteht, was der Teufel wirklich will: Zoe Saldaña als Rita (re.) mit Emilia Perez. © Neue Visionen / Wild Bunch

Vom Schock zur Sympathie

Audiard hat den Zuschauern oft Hartes zugemutet - wie 2012 in "Der Geschmack von Rost und Knochen" mit Marion Cotillard, die beide Beine verliert, oder beim Palmengewinner "Dheepan" 2015 über das brutale Leben eines eingewanderten Tamilen. Diesmal ist man in einem unterhaltsamen, aber ernstzunehmenden Musical-Melodram, das auch noch mit politischen und sozialen Themen spielt. "Emilia Perez" hat dafür gerade den Europäischen Filmpreis als "Bester Film" gewonnen und Audiard weitere Trophäen für Drehbuch, Regie und Schnitt. 

Dieses Genre-Jonglieren führt zu einem vitalisierenden Spiel mit uns Zuschauern: vom Schock zur Sympathie. Denn der größte Drogenboss heuert die Rechtsanwältin an, damit sie ihm hilft, eine andere Identität annehmen zu können. Der Clou: Er will den Identitätswechsel nicht, um komplett unterzutauchen oder um sein Leben vor einem Anschlag oder der Justiz zu retten. Sondern er offenbart ihr, dass er schon von Kindheit an wusste, dass er eine Frau ist und das jetzt auch sein will. Und so erliegen wir als Zuschauer zunehmend dem Charme und dem aufblühenden sozialen und politischen Engagement des brutalen Narco-Gangsterbosses Manitas, den wir nach 45 Minuten befreit als "Emilia Perez" weiterfolgen.

Karla Sofia Gascon bei der Verleihung des 37. Europäischen Filmpreises 2024 im Kultur- und Kongresszentrum Luzern.
Karla Sofia Gascon bei der Verleihung des 37. Europäischen Filmpreises 2024 im Kultur- und Kongresszentrum Luzern. © IMAGO/Sebastian Gabsch (www.imago-images.de)

Karla Sofía Gascón ist Manitas und dann Emilia

Dass man als Zuschauer diesen wilden Ritt durch Melodram und Musical mitmacht, sich die Fragen nach Schuld und Vergebung, nach Käuflichkeit und Freiheit, nach Liebe und sexueller Identität so frei und provokativ stellen lässt, ist der Meisterschaft Audiards zu verdanken. Und im Zentrum spielt Karla Sofía Gascón Manitas und dann Emilia, eine Transfrau, wie sie Gascón selber ist. Jetzt hat sie den Europäischen Filmpreis als "Beste Schauspielerin" gewonnen. 

Emanzipiert sich, nachdem ihr Mann für tot erklärt wird: Selena Gomez als Frau des Drogenkartellbosses.
Emanzipiert sich, nachdem ihr Mann für tot erklärt wird: Selena Gomez als Frau des Drogenkartellbosses. © Foto: Neue Visionen / Wild Bunch

Am Ende sind wir wieder in einem Krimi, denn neben der Rechtsanwältin und dem neuen Leben der Emilia Perez gibt es auch noch die Ehefrau (Selena Gomez) des Drogenbosses mit den gemeinsamen Kindern, die alle Manitas für tot halten. Aber irgendwann, wenn der Film noch zu einem Familiendrama geworden ist, wird es noch einmal richtig gefährlich. Denn die Vergangenheit holt einen doch immer irgendwie ein, oder?

Kinos: Arena, Isabella, Theatiner, Mathäser, Leopold, City, Monopol (alle OmU)
R: Jacques Audiard (F, Mex, 130 Min.)

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