Mut zur Menschlichkeit
Keine lila Milka-Kühe, keine heile Bergwelt, sondern schuften bis zum Umfallen, harte Strafen und Demütigung. Die Schweiz im Jahre 1950 ist kein Paradies, und schon mal gar nicht für „Verdingkinder”, Waisen und Halbwaisen, die von Pflegeeltern eigentlich nur als billige Arbeitskräfte wie Vieh gehalten werden, misshandelt und oft missbraucht. Und das von 1800 bis in die 1960er Jahre hinein.
Einer von ihnen ist Max, der an eine Bergbauernfamilie „verdingt” wird und auf dem Hof ab halb vier morgens im Stall und auf dem Acker rackert. Der Junge wehrt sich und will nicht Opfer sein, Trost findet er im Akkordeonspiel. Mit einer 15-jährigen Leidensgenossin, die der Bäuerin rund um die Uhr helfen muss und nachts von deren Sohn „besucht” wird, träumt er von Argentinien und vom Tango.
Regisseur Markus Imboden beschäftigt sich mit einem dunklen und verdrängten Geschichtskapitel seines Landes und rüttelt in diesem bildgewaltigen „Heimatfilm” auf gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit, erzählt von einer verlogenen und verschworenen Gesellschaft, vom Kampf des Althergebrachten gegen das Neue, vom Überleben durch die Kraft der Musik. Und von den wenigen, die Mut zur Menschlichkeit beweisen. Mit emotionaler Wucht folgt die bewegende, fast griechische Tragödie den Spuren des Glücks und des Unglücks. Die opulenten Aufnahmen von saftigen Emmentaler Wiesen, blauem Himmel, in dem sich Felszacken abzeichnen, zeigen eine üppige Natur. Die ist noch intakt, die Seelen nicht.
Der Film wirft einen schonungslosen Blick auf die Vergangenheit, aber auch auf die Gegenwart mit ihrem Schweigen aus falscher Scham, dem Verdrängen. Das Drama steht auf der Seite der Kinder, den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft, die man schützen muss. Egal, wo und wann.
Imboden stellt die Bauern nicht als abgrundtief schlecht dar und beschönigt nichts, für ihn werden die Menschen durch die Umstände hart wie die Bäuerin. Katja Riemann spielt diese frustrierte Frau fulminant in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Wut, Bösartigkeit und Bitternis, als Täterin und Opfer. Dass sie für die Rolle Berndeutsch lernte, macht die ihre Figur noch authentischer. Das Herzstück aber ist Max Hubacher als Verdingbub, einer mit klarem Gesicht und hellblauen Augen, einer, der viel durch Körpersprache aussagt und am Ende ein Stückchen Hoffnung lässt.
Kino: Atelier, Rio, Studio Isabella R: Markus Imboden
(D, Schweiz, 103 Min.)