Murphys Gesetz und Sex
Der Film beginnt verstörend – mit einem Sprung mitten in die Welt nackter Tatsachen: ein Mann und eine Frau, beide Mitte 20, auf einem Bett beim Petting, bis die Befriedigung sich im Gesicht des anderen abzeichnet. Doch umso abrupter dann – in einem scharfen Schnitt – die Szene unmittelbar danach: Der Mann, den wir soeben noch beim Liebesspiel gesehen haben, liegt nun an der Seite einer anderen Frau im Bett, während im Zimmer nebenan ein Kind weint.
Es ist Murphy, ein amerikanischer Filmstudent, der am Neujahrstag in Paris an der Seite seiner hübschen Partnerin Omi erwacht, mit der er eine zweijährige Tochter hat. Er ist übel gelaunt, weil er durch einen Anruf aus dem Reich der Träume herausgerissen wurde. Denn die Pettingszene zu Beginn war eine Traumsequenz von ihm, eine nostalgische Rückerinnerung an jene Zeit, als er noch mit der Künstlerin Elektra, der großen Liebe seines Lebens, zusammen war.
Warum muss Liebe scheitern? Welche Rolle spielt Sex dabei?
Dass er gerade jetzt von ihr träumt, ist kein Zufall, sondern eine Art beklemmende Vorahnung: Auf seiner Mailbox findet sich eine Nachricht von Elektras Mutter, die verzweifelt nach ihrer selbstmordgefährdeten Tochter sucht. Den Rest des Tages, und des Films, ist Murphy damit beschäftigt, sich – in einer als innerer Monolog inszenierten Rückschau – die wichtigsten Stationen seiner großen Liebe noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
Doch was ist geschehen, dass diese Liebe scheitern musste? Schon bald erfahren wir, dass Murphy fremdgegangen ist und Elektra mit Omi betrogen hat – also jener Frau, mit der er jetzt das Bett teilt und die die Mutter seines Kindes ist. Das Schicksal meint es nicht gut mit dem aufstrebenden Filmemacher, und so will es der Zufall, dass Murphy und das seinem Namen zugeschriebene Gesetz („Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen“) zur self-fullfilling prophecy wird: Als er und Omi in Elektras Abwesenheit Sex miteinander treiben, reißt das Kondom und die junge Frau wird schwanger.
Mit diesem Vertrauensbruch hat Murphy die Frau seines Lebens für immer verloren. Seine flehentlichen Versuche, sie wieder zurückzugewinnen, scheitern in einem Meer aus Schlägen und unkontrollierten Hasstiraden.
In „Liebe“ geht es freilich um viel mehr als um die Aufarbeitung eines Beziehungsdramas in der Manier Ingemar Bergmanns. Im Gegensatz dazu wollte Gaspar Noé „die Leidenschaft eines verliebten jungen Paares abbilden, mit all ihren körperlichen und emotionalen Exzessen“, auch wenn er sich damit in der Nähe der Pornografie bewegt.
Kein Porno, aber viel Leidenschaft
Gleichwohl ist der Film kein Porno. Noé will uns vielmehr zeigen, dass sogar in einer Liebe, in der scheinbar sexuell alles erlaubt ist, geheime Spielregeln gelten. Sonst kann von einem Moment auf den anderen alles verloren sein. – Gaspard Noé hat mit „Liebe“ einen bewegenden Film über die unwiederbringliche Kostbarkeit der Liebe gemacht, der großen Liebe, der bei all ihrer elementaren Eruptivität zugleich immer auch etwas Zerbrechliches und Zartes anhaftet. Zurückgreifen konnte er dabei auf den Wagemut seiner drei, bislang schauspielerisch kaum in Erscheinung getretenen Protagonisten Karl Glusman (Murphy), Aomi Muyock (Elektra) und Klara Kristin (Omi). Ihnen hat es Noé zu verdanken, dass dieser Film zu einer „Quintessenz“ jenes Lebens geworden ist, das er und seine Freunde „bislang geführt haben“ und in dem der „Unfall“ eines ungeplanten Kindes plötzlich neue Realitäten setzt.
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