Maria Schrader über MeToo-Debatte: "Ja, es hat sich was verändert!"

Mit ihrer ersten Hollywoodarbeit "She Said" landet Maria Schrader einen Coup. Die deutsche Regisseurin, die in den letzten Jahren zwischen Berlin und New York pendelte, verfilmt die mühevolle Recherchearbeit der New York Times-Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kantor, die im Oktober 2017 mit ihrem Enthüllungsartikel über Harvey Weinstein die weltweite #MeToo-Bewegung auslösten.
Im Interview spricht sie über den Machtmissbrauch im US-Filmgeschäft, die Angst der Opfer, das Netz von Erpressung und Männerbündelei um den sexuell übergriffigen Ex-Filmmogul, der wegen Sexualverbrechen zu 23 Jahren Haft verurteilt wurde.
Maria Schrader: Ihr erster Hollywoodfilm
AZ: Frau Schrader, wie haben Sie erstmals vom Weinstein-Skandal erfahren?
MARIA SCHRADER: Erst aus der deutschen Presse, dann habe ich den "New York Times"-Artikel gelesen. Ich gehörte zu den zahlreichen Schauspielerinnen, die von deutschen Journalisten kontaktiert wurden auf der Suche nach dem "deutschen Harvey Weinstein". Da erzählten Kolleginnen in breiter Berichterstattung ihre Erlebnisse.

Durch Megan Twohey und Jodi Kantor wurde das große Schweigen in Hollywood gebrochen, man redete über das Thema. So gab es in meinem nahen Arbeits- und auch privaten Umfeld viele Gespräche. Auch ich habe versucht, mich an Ereignisse zu erinnern in all meinen Berufsjahren. Ich stand das erste Mal ja schon mit 16 auf einer Bühne. Wir haben bestimmte Dinge als Normalität abgetan, die wir heute in einem anderen Licht betrachten.
Ging Ihnen sofort die Idee durch den Kopf, diese Geschichte zu verfilmen?
Nein. Ich bin ja weit entfernt von Hollywood und hatte nie etwas mit Weinstein zu tun. Wir waren alle mit uns selbst und unserem Umfeld beschäftigt.
Hierarchien aus Abhängigkeit und Angst
Dieser Sumpf aus Schweigen und Lügen auf der einen und Angst und Scham auf der anderen Seite, hatten Sie damit gerechnet?
Weinstein ist durch erklärbare Faktoren und wahrscheinlich auch durch sein Arbeitsfeld zu einer Symbolfigur geworden: der mächtige Mann, der seine Position gnadenlos ausnutzt. Das hat unmittelbar mit scharfkantigen Hierarchien zu tun, in denen die Angestellten Angst haben, weil sie sich in Abhängigkeit befinden. Die Isolation der Opfer und Zeuginnen über eine so lange Zeit hinweg, hat mich am meisten berührt. Wenn eine Frau sagt, sie habe geglaubt, die einzige zu sein, die nicht stark genug war zu widerstehen, macht mich das unendlich traurig. Das Ausmaß und die Beteiligung nicht nur der direkten Mitarbeiter in der Vertuschung oder Geheimhaltung war erschreckend – wie auch das Verhalten der unabhängigen Anwälte, die dazu rieten, Verträge zu unterschreiben, in denen es oft um Schweigegeld ging, also um die Verpflichtung, Vorfälle vertraulich zu behandeln, nicht da rüber zu reden.
Von Gerüchten zu einer journalistischen Investigation
Die #MeToo-Bewegung startete vor über fünf Jahren und erreichte eine große mediale Öffentlichkeit. Was kann Ihr Film noch bewirken? Was erhoffen Sie sich?
Dass wir überall die Fragen diskutieren, die aufkommen. Ich hoffe, dass der Film trotz aller Traurigkeit oder Dramatik die Menschen bewegt, Mut macht und inspiriert. Wir erzählen nicht die Geschichte von #MeToo, wir erzählen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sich zwei engagierte Journalistinnen mit Harvey Weinstein und den Gerüchten beschäftigten, einen schwierigen Weg gegangen sind, um die Wahrheit zu erfahren und ihren Artikel zu veröffentlichen. Gleichzeitig ist natürlich klar, dass es bis heute viele noch unbekannte Geschichten gibt. Es liegt mir am Herzen, dass der Zuschauer spürt, welche Erleichterung es den Frauen brachte, sich Jodi und Megan anzuvertrauen, endlich gehört zu werden.
Die Missbrauchsvorwürfe gegen Weinstein wie der Prozess haben betroffenen Frauen eine Stimme verliehen. Aber dann war ich doch sehr erstaunt über das Ergebnis einer neueren Untersuchung einer feministischen Soziologin in Amerika: Danach hat sich kaum etwas am Wunschbild vom Mann geändert. Er soll immer noch größer sein, über mehr Geld verfügen und einen höheren Status besitzen. Leben wir im künstlerischen oder intellektuellen Bereich in einer Blase, außerhalb der Frauen wenig Veränderung anstreben?
Wir sind alle über Jahrhunderte gesellschaftlich geprägt durch ein Frauen- und Männerbild in einer von Männern dominierten Welt, sind in patriarchalischen Strukturen geboren, aufgewachsen und ausgebildet. Ich empfinde mich selbst als Teil davon. Auch Harvey Weinstein ist mit diesen Narrativen aufgewachsen. Mädchen und Jungen erfahren unterschiedliche Erziehung, es werden ihnen andere Eigenschaften zugeschrieben.
Starke gesellschaftliche Ungleichheit: Sexualität von Jungen und Mädchen
Die Sexualität des Mannes ist als eine Naturgewalt unhinterfragt, Frauen sind erzogen, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, in der Form wie sie sich kleiden, wie sie sich verhalten. Wenn ihnen etwas zustößt, mussten sie sich oft den Vorwurf gefallen lassen, einen sexuellen Übergriff provoziert zu haben. Ihre Sexualität gilt als passiv, das führt zu Scham und geht so weit, dass ihnen unterstellt wird, überwältigt werden zu wollen. Von diesen lange existierenden gesellschaftlichen Normen und deren Prägung können wir uns nicht von heute auf morgen befreien. Veränderungen und eine andere Art der Repräsentation brauchen mehr als ein paar Jahre.
Gehen wir jetzt anders mit sexueller Belästigung um?
Ja. Zuviel Stimmen wurden laut, als dass sie ungehört bleiben konnten. Ich habe in meinem Werdegang durchaus gelernt, den mächtigeren Mann in seiner Position für meinen eigenen Nutzen zu bespielen. Und da ist der Flirt sicherlich ein Teil davon. Wir kennen den alltäglichen Chauvinismus. Der reicht von verbalem Sexismus bis hin zu justiziablen Gewaltverbrechen. Im Umgang damit wollten wir möglichst unbeschadet bleiben, Dinge vergessen, die Teile des Systems waren. Aber das ist vorbei.
Hat sich das System irreversibel verändert, ist ein solcher Machtmissbrauch inzwischen unmöglich?
In den USA sind Jody und Megan natürlich am Zahn der Zeit. In vielen amerikanischen Bundesstaaten wurden Gesetze geändert, auch in Deutschland zeigt man eine stärkere Sensibilität, und es wird in großen Betrieben und in verschiedensten Arbeitsfeldern für mehr Sicherheit in diesem Bereich gesorgt. Es gibt eine neue Aufmerksamkeit, kritische Stimmen werden nicht mehr leichtfertig vom Tisch gefegt. Aber Machtmissbrauch passiert nach wie vor.
Revolution des Kinos: weg vom klassischen (männlichen) Helden
Ist die Zeit der klassischen männlichen Heldenfiguren, wie wir sie aus der Geschichte des Kinos kennen, vorbei? Selbst für Helden wie "Die Unbestechlichen", deren Recherchen zum Rücktritt des US-Präsidenten Richard Nixon führten?
Mal abwarten. Ich liebe dieses Kino und natürlich diesen Film. Aber ich glaube nicht, dass die beiden ihre Position in der Gesellschaft jemals hinterfragt haben, während sie Kampagnengelder und politische Korruption untersuchten. Ich wiederum wollte den privaten Alltag dieser fantastischen Journalistinnen in "She said" nicht ausklammern. Ihren Alltag als arbeitende Mütter und Ehefrauen, ihre Emotionen und Sorgen, die durchwachten Nächte nach der Geburt. Ein Arbeitsalltag, der ein ganz anderer ist als der von Männern. Ich habe in diesem Genre noch keine zwei weiblichen Protagonistinnen gesehen, die völlig unglamourös U-Bahn fahren, zu spät kommen und auch nicht immer perfekt aussehen.
Wie eng war die Zusammenarbeit mit den investigativen Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kantor?
Die beiden waren jederzeit für uns erreichbar, auch für die Schauspielerinnen. Ich habe sie natürlich gelöchert, um ihre journalistische Arbeit so wahrheitsgetreu wie möglich zu porträtieren. Es gab so viele Realitätsebenen in diesem Film und eine damit einhergehende Verantwortung. Die "New York Times" hat das erste Mal ihre Türen für einen Spielfilm geöffnet. Es war ein Glück, dort zu drehen.
Gendern als wichtiges Mittel der Selbstermächtigung
Am Ende aller Kämpfe sollte die Selbstermächtigung der Frau stehen. Ist das verordnete Gendern da ein Schritt?
Ich wünsche mir manchmal, dass die deutsche Sprache der englischen ähnlich wäre. Da gibt es einen Artikel und Männer wie Frauen werden "director" und "actor" genannt. Ich gendere, aber von mir selbst rede ich auch gerne als Regisseur. Gendern halte ich für ein wichtiges Mittel zur Bewusstwerdung. Wenn man über Beruf oder Arbeit spricht und dann automatisch die Info über das Geschlecht mitliefern muss, empfinde ich das allerdings als kompliziertes Diktat. Das erinnert an Geschlechterrollen, wo es eigentlich um Gleichstellung gehen soll.
Reizt es Sie nach Ihren tollen Erfahrungen, weiter in Amerika zu arbeiten?
Die meiste Zeit im Vorfeld habe ich damit verbracht, amerikanische Schauspieler kennenzulernen, mir ihre Arbeit anzuschauen. Es gibt so viele kleine Parts für nur ein oder zwei Szenen und alle waren einfach hervorragend. Das erfüllt mich mit Stolz und Freude, das muss man ja auch erst einmal schaffen. Ich kann mir vorstellen, sowohl in Amerika zu arbeiten als auch in Europa. Manchmal fühle ich mich wie eine Touristin zwischen den Kontinenten, alles ist ein bisschen fremd und gleichzeitig aufregend. Aber ich plane nicht, jetzt nur noch in Hollywood Filme zu drehen, dazu liebe ich Europa zu sehr und unsere Art, Geschichten zu erzählen.