Interview

Marco Bellocchio über "Rapito"

Der Regisseur erzählt in seinem neuen Film von der Entführung eines jüdischen Kindes durch den Papst
Adrian Prechtel
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Marco Bellocchio wurde 1939 in Bobbio geboren. Nach einen Film- und Kunststudium in London drehte er eigenen Filme. 1986 wurde "Teufel im Leib" wegen der freizügigen Liebesszenen in Europa zu einem Skandal. Bellocchio war oft im Wettbewerb in Cannes und Venedig vertreten und hat viele Preise und Ehrenpreise erhalten.
Anna Camleringo 3 Marco Bellocchio wurde 1939 in Bobbio geboren. Nach einen Film- und Kunststudium in London drehte er eigenen Filme. 1986 wurde "Teufel im Leib" wegen der freizügigen Liebesszenen in Europa zu einem Skandal. Bellocchio war oft im Wettbewerb in Cannes und Venedig vertreten und hat viele Preise und Ehrenpreise erhalten.
Der Papst mit dem entführten Kind.
Anna Camleringo 3 Der Papst mit dem entführten Kind.
Eine Entführung mit dem Ziel einer geistlichen Karriere.
Anna Camleringo 3 Eine Entführung mit dem Ziel einer geistlichen Karriere.

Diese Geschichte ist wirklich geschehen. Am 24. Juni 1858 entriss die Polizei in Bologna, das damals noch zum Kirchenstaat gehörte, auf Anordnung der Inquisition einen siebenjährigen Jungen seiner jüdischen Familie. Edgardo Mortara wurde in ein katholisches Knabenheim gebracht, um ihn zu einem Priester zu erziehen. Er wurde zu einem Schützling des Papstes, während die Eltern - auch mit Hilfe der internationalen Presse - versuchten, ihren Sohn zurückzubekommen. Marco Bellocchio hat mit "Rapito - Die Bologna-Entführung" daraus einen packenden Historienfilm gemacht.

AZ: Signor Bellocchio, sind Sie mit dem Stockholm-Syndrom vertraut? Der entführte Junge identifiziert sich immer mehr mit der neuen Umgebung - und wird Priester, obwohl er erlebt hat, wie stark seine Eltern um ihn gekämpft haben.

MARCO BELLOCCHIO: Das sogenannte Stockholm-Syndrom, also wenn der Entführte für seine Entführer beginnt, Verständnis zu entwickeln, ist normalerweise ein Phänomen bei Erwachsenen. Hier ist es auch noch ein Kind, das schutzloser und beeinflussbarer ist. Und der Papst persönlich behandelte den Jungen immer mit Fürsorge und Respekt, fast wie ein Vater. So konnte sich der Junge daher wichtig fühlen, er war vom Hof des Papstes im Vatikan fasziniert. Unter dem Einfluss des Papstes und der Menschen in seinem Umfeld war der Junge schließlich aufrichtig vom Katholizismus überzeugt. Das ist historisch bezeugt. Mortara starb erst 1940 in einem belgischen Kloster.

Wie haben Sie selbst den italienischen Katholizismus erlebt?

Als Staatsreligion. Als ich jung war, gab es keine andere "wahre" Kirche als die katholische. Und mein Film spielt ja noch einmal 100 Jahre früher. Das Selbstverständnis des Papstes war, dass die Kirche selbst heilig war und daher nicht in Widerspruch zu ihren Prinzipien und der Vergangenheit stehen darf. Mortara war angeblich von seinem christlichen Kindermädchen heimlich getauft worden. Also musste er der jüdischen Erziehung entzogen werden, denn er war unauslöschbar Christ. Aus katholischer Sicht war die "Entführung" kein Verbrechen, sondern rechtlich richtig. Und an ihm hat sich das katholische Wunder des Heiligen Geistes vollzogen, dass Edgardo Mortara ein so treuer Diener der Kirche wurde.

Aber schon damals galt der Fall Mortara als Extrembeispiel für einen katholischen, inhumanen Rigorismus.

Der gegenwärtige Papst spricht ja auch nicht mehr von einer Politik der Bekehrung, der Mission, sondern von der Koexistenz mit anderen Religionen.

Der reaktionäre Papst Pius IX. beantwortete den Verlust des Kirchenstaates und des Einflusses mit dem unseligen Unfehlbarkeitsdogma.

Das hat mich an dem Stoff auch so gereizt: Die private Geschichte des Jungen und der jüdischen Familie spielt in die große Geschichte Italiens und der Welt hinein. Über den Skandal wurde sogar in den USA berichtet. Frankreich und Österreich intervenierten diplomatisch - aber ohne Erfolg. Dann läuft im Hintergrund die italienische Einigung ab, die die weltliche Macht des Papstes auf den Vatikanstaat verzwergte. Nicht nur in Bologna war der Papst zuvor auch noch weltlicher Herrscher. Pius IX. reagiert darauf, als sei der neue italienische Staat Gotteslästerung.

Steven Spielberg wollte lange einen Film über diesen Stoff drehen. Warum jetzt Sie und nicht er?

Spielberg hat das Projekt aufgegeben. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht hat er sich in diesem komplizierten italienischen geschichtlichen Umfeld nicht sicher genug gefühlt. Mir ist der Film von den Produzenten angeboten worden. Aber Spielberg hat meinen Film gesehen und auch gleich gesagt, dass das so nur ein Italiener machen konnte: "melodramatisch italienisch". Sein Film wäre ein komplett anderer geworden.

In Zeiten von politischer Korrektheit könnte man aber diskutieren, ob diese Geschichte nicht von einem jüdischen Regisseur gemacht werden müsste?

Auch dann wäre er ganz anders geworden. Aber ich habe auch Rückmeldungen von der jüdischen Gemeinde Italiens, dass man meinen Film schätzt. Und man ist glücklich, dass ich mich mit der jüdischen Situation - zwischen Emanzipation, Angst und Demütigung - befasst habe, wie mir der Oberrabbiner von Rom gesagt hat.

Italien wird zum ersten Mal von einer extrem rechten Regierung geführt. Beunruhigt Sie das?

Natürlich ist es befremdend, wenn die stärkste Partei Wurzeln hat, die an den Faschismus anknüpfen und die jetzige Ministerpräsidentin in ihrer Jugend selbst solche Tendenzen hatte. Aber die kurzen Perioden linkerer Regierungen haben die Italiener enttäuscht, sie waren zu mutlos. Und natürlich ist es unsinnig, in der Gegenwart noch nationalistisch zu sein. Die neue Regierung aber ist mit starken Institutionen, wie den Gerichten und dem Staatspräsidenten, konfrontiert. Giorgia Meloni akzeptiert die EU, kann auch das Migrationsthema nicht lösen - zumindest nicht allein. Eine faschistische Gefahr jedenfalls besteht in Italien nicht. Da sollte man lieber nach Ungarn schauen.

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