Lars Kraumes Film über die deutsche Kolonialzeit: Die Wahrheit als Grundlage
Der heute 50-jährige Absolvent der Berliner Filmschule DFFB hat bereits 30 Fernseh- und Spielfilmprojekte hinter sich als Autor, Produzent und Regisseur. In seinen letzten Spielfilmen "Der Staat gegen Fritz Bauer"(2015) und "Das schweigende Klassenzimmer" (2017) beschäftigte er sich mit der Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der BRD und dem Totalitarismus der DDR. Fotos: Studiocanal
Eine deutsche Heldenfigur verbietet sich bei so einem Thema
In seinem Film "Der vermessene Mensch" erzählt Lars Kraume von einem idealistischen deutschen Ethnologen, der in die Kolonialverbrechen, die Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia begangen hat, verwickelt wird. Aber eine deutsche Heldenfigur verbietet sich nach Kraumes Auffassung bei so einem Thema.
AZ: Herr Kraume, was ist Ihr Bezug zu dem Thema?
LARS KRAUME: Ich empfinde die deutsche Kolonialzeit immer noch als eine weitgehend unerzählte Geschichte. Ich selbst bin nach der Schule, 1992 und 1993, nach Namibia gereist. Ich habe einfach nur gestaunt, die Spuren deutscher Kolonialzeit in so einem Land noch eingeschrieben zu sehen. In Swakopmund gibt es eine Bismarckstraße und es wird Schweinshaxe gegessen, und ich war noch ganz jung und sehr irritiert, weil ich davon überhaupt nichts wusste.
Nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit wurde das heutige Namibia von Südafrika besetzt, bis 1990.
Und in diesen 70 Jahren wurde nicht viel über den Genozid an den Herero und Nama geredet. Und heute sage ich zu meinen Teenager-Söhnen, ihr müsst, wenn schon der Bundespräsident nicht nach Namibia reist, um sich zu entschuldigen, diese Geschichte kennen, damit eure Generation sich aufgeklärt und auf Augenhöhe mit den 1,2 Milliarden Afrikanern an einen Tisch setzen kann, um eine gute Zukunft Europas und Afrikas zu verhandeln. Es geht darum, Schuld zu akzeptieren und zu verarbeiten anstatt zu leugnen oder zu verdrängen, was auch uns unglücklich macht.
Sie haben grundlegend zu der Geschichte des deutschen Kolonialkrieges gegen die Nama und Herero auch den Soldatenroman "Morenga" von Uwe Timm gelesen. Sie haben aber nicht den Freiheitskämpfer in den Mittelpunkt gerückt, sondern einen jungen deutschen Ethnologen und eine gebildete Hererofrau. Musste man in Zeiten der Diskussion um kulturelle Aneignung und Emanzipation es also anders aufziehen?
Nein, es gibt nichts, was man heute, wenn man es sensibel angeht, nicht mehr machen könnte. Aber man darf natürlich nicht mehr fremde Geschichten – wie die des Freiheitskämpfers Jakobus Morenga – für ein großes europäisches oder Hollywood-Epos ausbeuten. Mel Gibson hat das in "Braveheart" noch gemacht, aber diese Zeiten sind vorbei. Die einzig legitime Erzählperspektive für uns ist die Täterperspektive. Damit verbietet sich eine deutsche Heldenfigur.
Wir erleben also den moralischen Niedergang eines deutschen Ethnologen vom relativen Humanisten zum Mittäter im Kolonialkrieg.
Ja, ich musste mich also fragen, warum und wie heute, also 45 Jahre nach dem Roman, ein deutsches Publikum mit dieser Geschichte konfrontiert werden muss. Und da hat sich ein Perspektivenwechsel ergeben. Wir diskutieren heute über die Frage der Rückführung von geraubten kulturellen Gegenständen und die Rückgabe von menschlichen Schädeln und Knochen aus unseren ethnologischen Sammlungen, um eine würdige, traditionelle Bestattung zu ermöglichen. Und so haben wir auch diese Geschichte der Grabschändungen und des Grabraubes sowie der folgenden Schädelvermessungen in Deutschland ins Zentrum gerückt. Dazu erzählen wir die Odyssee des fiktiven Ethnologen Alexander Hoffmann durch den Genozid, um die Ereignisse nah zu erzählen, ohne in das Grauen verdurstender Menschen und zurückgelassener Kinder mitgehen zu müssen. Man muss sich nur vorstellen, was es bedeutet, einem Volk den Tod zu erklären. Das ist das, was General von Trotha gemacht hat.
Das Elend, das diesen Menschen widerfahren ist, ist nicht zu inszenieren.
Die ganzen Gewaltbilder wollte ich auch vermeiden, ohne die Geschichte zu leugnen, was ja die ganzen Rassisten seit 120 Jahren tun. Die Herero Kezia ist auch fiktiv, aber beide Protagonisten sind zusammengesetzt aus vielen Zeitzeugenberichten und echten Biografien.
"Ihr versucht wenigstens, diesen Teil eurer Geschichte nicht zu vergessen"
Wie wurde denn der Film in Namibia aufgenommen?
Wir haben ihn im Hererogebiet zum Teil in Dörfern gezeigt, wo es gar keine Kinos gibt, zum Teil auch an sehr symbolischen Orten. Die Leute kamen erst einmal skeptisch und gingen sehr emotionalisiert und versöhnt mit dem ganzen Projekt. Der Tenor war: "Ok, ihr habt das aus eurer Perspektive erzählen müssen, aber ihr versucht wenigstens, diesen Teil eurer Geschichte nicht zu vergessen." Auf der Seite der Hereros und Nama wiederum gibt es fast nur mündlich erzählte Geschichte, weil es aus der Zeit von Anfang des 20. Jahrhunderts eben kaum Fotografien gibt, die nicht von deutscher Seite gemacht wurden. Und wir konnten jetzt diese mündlich tradierte Geschichte mit Bildern anreichern und erzählen, warum Deutsche aus rassentheoretischen Gründen Tausende von Schädeln gesammelt haben. Da saß dann auch die Urenkelin eines der Anführer der aufständischen Ovaherero, Samuel Maharero, im Publikum. So nah ist das Ganze immer noch.
Aber Ihr Film ist doch sicher auch ein Schock!
Ja, und viele haben mir von ihren Familien erzählt, zum Beispiel von massenhaften Vergewaltigungen, so dass es Hereo gibt, die sehr "deutsch" aussehen und gar keine richtige Identität haben. Das sind unglaubliche Verwüstungen und Stigmatisierungen, die bis ins Heute reichen.
Aus deutscher Sicht hat sich ja beim Rückblick in die Geschichte immer der Holocaust wie ein Sperrriegel vor die Kolonialverbrechen geschoben.
Ja, andere Nationen mussten sich in den 50er- und 60er-Jahren – im Gegensatz zu Deutschland – während der Befreiungskriege mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinandersetzten. Wir waren dazu seit 1919 nicht mehr gezwungen. Aber jetzt kam die Raubkunstdiskussion auf und der Blick wird geweitet. Die Schädel, die noch immer zu Tausenden in Deutschland lagern, müssen restituiert werden, die Toten kommen sonst nicht zur Ruhe. Man muss sich nur vorstellen: Würde der Kopf meiner Urgroßmutter in einem Museum in Windhoek lagern, würde ich den auch zurückhaben wollen, um ihn zu beerdigen. Wir müssen mit unserer Geschichte klarkommen, und unsere Geschichte ist die der Kolonisatoren, der Missionare, der Kaufleute, der Soldaten und Ethnologen. Heute lebt Namibia zwar vom deutschen Tourismus, aber man kann nicht dorthin reisen, in teuren Lodges wohnen und Elefanten anschauen, ohne von unserer verbrecherischen Geschichte zu wissen. Das ist mehr als geschmacklos, so kann das nicht heilen.
Inwieweit waren namibische Künstlerinnen und Künstler in das Projekt eingebunden?
Wer vom Kolonialismus redet, muss auch von den Opfern reden. Und man muss mit ihnen reden, ihnen Raum geben. Meine Darstellerin Girley Jazama ist selbst Herero, außerdem Autorin und Produzentin, und sie war für mich die wichtigste Beratung, um die Figur in ihrer Zeit zu verstehen. Zum Beispiel hat sie mir klargemacht, dass man hier keine Liebesgeschichte erwarten darf. Für eine Herero-Frau zu dieser Zeit gibt es keine sinnliche oder erotische Beziehung zu einem weißen deutschen Mann, weil Besatzung, Gräuel und Gewalt längst begonnen haben.
So viele namibische Mitarbeiter wie möglich zu beschäftigen, war also ein Kernpunkt der Produktion.
Absolut. Die Kleidung der Herero etwa wurde von Cynthia Schimming kreiert, einer inzwischen leider verstorbenen namibischen Kostümbildnerin, die auch schon am Ethnologischen Museum im Humboldtforum gearbeitet und sich sozusagen wissenschaftlich mit den historischen Kostümen der Herero beschäftigt hat. Das Dorf, in dem wir gedreht haben, wurde komplett gebaut von Himba, einer verwandten Volksgruppe, die immer noch traditionell leben und die traditionellen Bauweisen kennen.
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