Kritik zum neuen Kinofilm „Einfach das Ende der Welt“ mit Vincent Cassel
Familie: Ort der Geborgenheit, des Horrors, Brutstätte von Neurosen, Raum des Gesagten und Unausgesprochenen. In „Einfach das Ende der Welt“ kehrt ein 34-Jähriger (Gaspard Ulliel) in sein Elternhaus zurück, wo seine jüngere Schwester (Léa Seydoux) noch festhängt, nicht fähig, sich von der neurotischen Mutter (Nathalie Baye) loszusagen. Auch die andere Schwester (Marion Cotillard) ist für den ersten Besuch des Bruders nach zwölf Jahren mit ihrem sie unterdrückenden Macho-Ehemann (Vincent Cassel) angereist.
Es gibt Familien, die einem das Wiedersehen leicht machen. Es gibt aber auch jene, in denen die vergangene Zeit die zwischenmenschliche Kluft nur vergrößert hat. Man hangelt sich von einer Floskel zur nächsten, bis sich wieder alte Verhaltens- und Rollenmuster einschleifen, als sei man nie erwachsen geworden.
„Es gibt Dinge im Leben, die einen dazu bewegen, aufzubrechen, ohne zurückzublicken“, sagt Louis zu Beginn des Filmes. „Aber es gibt genauso viele Dinge, die einen dazu bewegen, zurückzukehren.“ Louis kehrt zu einem entscheidenden, letzten Besuch zurück, denn er ist todkrank. Wie soll Louis mit den Menschen, die einst Teil seines Lebens waren, ihm aber jetzt so fremd geworden sind, umgehen? Ihnen von seiner Krankheit erzählen? Wie werden sie damit umgehen, dass er anders ist, als die Familie von ihm erwartet hat? Der 27-jährige kanadische Regiejungstar Xavier Dolan hat hier das französische Theaterstück von Jean-Luc Gafrace verfilmt, das schon 1990 in Berlin geschrieben worden ist. So erinnert „Einfach das Ende der Welt“ auch an andere verfilmte Kammerspiele, wie Yasmina Rezas Entlarvungs-Tragikomödie „Der Gott des Gemetzels“ in der Verfilmung von Roman Polanski. Oder als heitere Version: „Der Vorname“ von Alexandre de La Patellière und Matthieu Delaporte, in dem der Bildungsbürgerdünkel zerlegt wird.
Von Klassengegensätzen und bürgerlicher Abgrenzung
Auch Dolans Film verlässt kaum die Enge des Familienhauses. Aber hier geht es weniger um die Entlarvung von Klassengegensätzen und bürgerlicher Abgrenzung. „Einfach das Ende der Welt“ legt intimste brutale Familienstrukturen und deren Versagen offen. Für Louis konserviert das Haus eine verdrängte Zeit.
In formatfüllenden Großaufnahmen wird jedes Familienmitglied seziert und in seinen – oft von unterdrücktem Hass, Neid und Unverständnis verletzten Ich – in Beziehung zu den anderen charakterisiert. Es herrscht eine explosive Enge zwischen den Figuren, die Atmosphäre ist geladen von einer Erwartungshaltung an den verlorenen Sohn, Bruder und Schwager, der als Außenstehender katalysatorisch Verletzungen heilen soll. Louis kann als Schriftsteller mit Worten umgehen. Doch die Spannung in „Einfach das Ende der Welt“ wird nicht durch das Gesagte aufgebaut, sondern durch das Nichtgesagte. Mit jeder Stunde, die verstreicht, wird es für Louis schwieriger, endlich das zu sagen, wofür er eigentlich gekommen ist. Dolan zeigt die Hysterien und gegenseitigen Verbal-Aggressionen bei allem stilisierten Realismus an der Grenze zur Karikatur. Das birgt die Gefahr, als Zuschauer gegenüber den Figuren zu erkalten, was die familienpsychologische Tiefe gefährdet. Eine Gefahr, die auch das französische Superstaraufgebot nicht ganz abwenden kann.
Kino: City, Studio Isabella, Theater, OmU
R: Xavier Dolan (F, Kanada; 99 Min.)
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