Klassenfressen

Cannes, der Ort gilt als dekadent: Millionärs- und Rentnerparadies, die Cote d’Azur eine Hochburg des Front National, viele Hundesalons... Jetzt aber tauchte eine andere Region als degeneriert auf: die französische Kanalküste im Film von Bruno Dumont: „Ma Loute“ – mein Liebling, eine Koseform für Töchter.
Aber es ist ein armer Fischerjunge, der vom Vater so genannt wird und beide zusammen ermorden als Kannibalen reiche Touristen. Der französische Wettbewerbsfilm aus der Bell’Epoque-Zeit mit Stars wie Fabrice Luchini, Juliette Binoche und Valeria Bruno Tedeschi ist eine Mischung aus Luchino Visconti-Nostalgie mit sanften Surrealismus-Einlagen, ein ironisches Lächeln über eine vergangene Klassengesellschaft – nett, skurril, aber letztlich harmlos.
Was den Bogen zum Engländer Ken Loach schlägt. Der bedient sich einer anderen Form der Beachtung von Klassenunterschieden: einer wunderbar unaufgeweichten, konsequent linken, aktuellen! „I, Daniel Blake“ erzählt von einem älteren Arbeiter, der nach einem kleinen Schlaganfall wieder arbeiten will. Dabei scheitert er aber an der zynischen Krankenkassen- und Jobcenter-Bürokratie. Porträtiert werden Menschen, die kurz vor dem Abgleiten ins Prekariat stehen, vielleicht auch in die Obdachlosigkeit. Sie bemühen sich, niemandem zur Last zu fallen und ihren Stolz zu wahren. Loach beobachtet hart und sentimental zugleich, denn er liebt diese Menschen, glaubt an sie, gibt ihnen ein Gesicht. Und genau dieser klar erzählte anti-neoliberale Realismus ist so bewegend, weil er Wut und Reflexion erregt – die Vorstufe zur politischen Tat.
Abschied von Hollywood
Aber ein Festival, das 4500 Journalisten an sich binden will, braucht auch den einlullenden Glamourrausch. Und jetzt, da Allen, Stewart, Clooney, Roberts, Foster und Binoche ihre Auftritte hatten, tritt das Festival ins Zentralwochenende mit Steven Spielbergs großem, freundlichem Giganten-Film: „The BFG“ - und es sind nicht Stars, die er vor allem mitbringt, sondern es ist seine Crew, die das Ganze so besonders macht: Spielberg, der große Erfinder des Family-Entertainment und der Blockbuster-Maschinerie, hat für „The Big Friendly Giant“ noch einmal seine Vertrauten von „E.T.“ versammelt. So wirkt es wie ein Veteranen-Abschied von der letzten großen Hollywood-Zeit, die sich noch mit Riesen-Budgets an neue Stoffe wagte.
Dazu passt, dass am Sonntag noch Russell Crowe und Kim Basinger auftauchen – ebenfalls außer Konkurrenz für einen der so selten gewordenen mittelteuren Produktionen: einen Detektiv-Thriller, der im Los Angeles der 70er spielt: „The Nice Guys“, von Shane Black, der zuletzt aber „Iron Man 3“ drehte: die klassische Mutlosigkeit Hollywoods. Trotz all diesem, leicht rückwärts gewandtem Glanz, hoffen – nach acht Jahren deutscher Abstinenz im Wettbewerb – viele auf die Premiere des Beitrags von Maren Ade: Sandra Hüller und Peter Simonischek sind schon angereist für „Toni Erdman“. Im Palais du Festival wird dann auch die viele Prominenz aus Hollywood sehen, was das deutsche Kino leisten kann.