Kinofilm von Céline Sciamma: "Eine Auszeit von der Realität des Erwachsenseins"

München. Sie gehört zu den Regisseurinnen, die dem französischen Autorenfilm neuen Schwung verleihen und zu neuem internationalem Ruhm verhelfen. Jetzt überrascht Céline Sciamma mit "Petite Maman - Als wir Kinder waren", einer intimen Zeitreise, in der sich Mutter und Tochter traumhaft als zwei Achtjährige treffen und für kurze Zeit beste Freundinnen werden. In ihrem fünften Film zaubert sie aus der Kraft der Erinnerung und der Imagination ein poetisches Kunstwerk, das Genre-Grenzen überwindet.
AZ: Madame Sciamma, nach dem historischen Liebesdrama nehmen Sie uns mit in die geheimnisvolle Welt der Kinder. War das ein großer Sprung?
CÉLINE SCIAMMA: Ich habe da keine großen Gedanken vorher gewälzt. Das Thema war plötzlich während der anstrengenden Drehbuchphase zu "Porträt einer jungen Frau in Flammen" in meinem Kopf. Ich wusste sofort, das wird mein nächster Film. Trotz aller Warnungen, ich schreibe gerne für Kinder und arbeite seit "Tomboy" auch gerne mit ihnen. Ihre Liebe, ihre Ehrlichkeit, ihre Neugier und ihre Vitalität faszinieren mich. Von ihrem unverstellten Blick können wir Erwachsenen noch was lernen. Mir hat es einen Riesenspaß gemacht die Figuren zu erforschen und zum Leben zu erwecken.
Sciamma: "Eine Auszeit von der Realität des Erwachsenseins"
Was verbindet die beiden Filme, die junge Malerin und ihr Modell aus einer Adelsfamilie in "Porträt einer jungen Frau in Flammen" und die beiden Mädchen in "Petite Maman"?
Beide Filme erzählen von vergänglichen Momenten. Und von einer Ebenbürtigkeit. In "Porträt einer jungen Frau in Flammen" begegnen sich die Liebenden als Malerin und Porträtierte, als Bürgerliche und Aristokratin auf Augenhöhe. In "Petite Maman" sind es Mutter und Tochter - aber eben im gleichen Alter. Der Unterschied zwischen diesen thematisch verwandten Filmen liegt darin, dass in dem einen die erwachsenen Protagonistinnen sich dem sinnlichen Vergnügen hingeben, während in dem anderen die Kinder sich von Fantasie und Unschuld leiten lassen, von ihrem Blick auf die Welt. Hätte ich die Filme in umgekehrter Reihenfolge gedreht, hätten beide vielleicht anders ausgeschaut.
Nelly trifft auf ihrer Zeitreise die eigene Mutter als Kind. Glauben Sie, alle Zuschauer können Ihnen da folgen?
Wir müssen nur tief in uns hineinhören, unser Hirn und unser Herz sprechen lassen. Oft bringt uns ein Verlust dazu, diese verschüttete Fähigkeit zu reaktivieren. Wir sollten uns kurzfristig von der Ratio verabschieden und in Fantasie und Träume fallen lassen. Wir alle benötigen eine Auszeit von der Realität des Erwachsenseins.
Sciamma: "Ich sehe oft das Kind in meinem Gegenüber"
Was interessierte Sie speziell an dieser außergewöhnlichen Geschichte von Liebe und Freundschaft zwischen Mutter und Tochter?
Es gibt schlicht und einfach zu wenig Geschichten von Müttern und Töchter im Kino. Die Beziehung zwischen Müttern und ihren Söhnen scheint für meine Kollegen interessanter zu sein. Generell bleibt die weibliche Perspektive oft unberücksichtigt, die Sichtbarkeit von Frauen.
"Petite Maman" ist auch ein Film über die Erinnerung. Was bedeutet Ihnen die Vergangenheit?
Etwas, das nicht vergangen ist. Die Kindheit ist immer präsent. Im Laufe unseres Lebens machen wir Lernprozesse durch, Prozesse der Transformation, der Wandlung, wir wachsen an uns und den Herausforderungen, an denen, die wir lieben. Jeder Mensch entwickelt sich weiter und wird dabei mit sich selbst konfrontiert. Wir bleiben trotzdem dieselbe Person. Ich sehe oft das Kind in meinem Gegenüber. Die Kindheit ist nicht tot oder vergraben. Deshalb ist dies ein sehr persönlicher Film. Die Dreharbeiten fanden übrigens nicht nur im Studio statt, sondern im Wald nicht weit entfernt von meinem Geburtsort.
Ein Film über die Beziehung zwischen Generationen
Wie liefen die Dreharbeiten mit den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz?
Ich bin ein richtiger Kontrollfreak am Set und plane alles sehr präzise. Für mich gibt es keinen Unterschied in der Arbeit mit Kindern oder Erwachsenen, die Dialoge schreibe ich für die Darstellerinnen. Nur in einer Szene, als die beiden Pfannkuchen vorbereiten, bin ich vom Konzept abgewichen. Da waren sie aus dem Häuschen und super drauf. Mit Kindern entspinnt sich eine ganz besondere Dynamik. Die Vorbereitungen aber erforderten Genauigkeit, weil sie nur drei Stunden täglich arbeiten durften. Um sie nicht unter Druck zu setzen, haben wir nicht geprobt, aber uns immer wieder lange unterhalten.
Die erste Szene spielt in einem Altenheim, die Großmutter ist gestorben, das Mädchen verabschiedet sich von den Bewohnerinnen. War diese Situation von der Corona-Zeit inspiriert?
Die Szene habe ich eine Woche vor dem Lockdown geschrieben, ohne zu wissen, was uns erwartete. Als sie mir dann zwei Monate später wieder in die Hände fiel, hatte sie eine ganz andere Bedeutung. So viele alte Menschen starben allein im Heim. Unser Leben war plötzlich ein ganz anderes. Der Verlust geliebter Menschen, von denen wir uns vielleicht nicht mehr richtig verabschieden konnten, gehörte zum Alltag. Trauer und Tod waren allgegenwärtig. Gerade deshalb schien mir auch die Beziehung zwischen den Generationen wichtig.
Sciamma: "Wir sollten nicht immer alles mit dem Verstand erklären"
Glauben Sie, Kinder sind ganz besonders Leidtragende der Pandemie?
Die Monate des Lockdowns waren schrecklich für sie. Die geschlossenen Schulen, die reduzierten Kontakte, bei vielen fehlte das Gefühl der für Kinder wichtigen Geborgenheit. Sie wurden nicht mit ihren Bedürfnissen ernst genommen wie die Erwachsenen, die mit eigenem Stress kämpften. Ich sehe mich als Anwalt der Kinder.
Der Wald, die Hütte zwischen den Bäumen, das verwaiste Haus der Großmutter, das alles strahlt ein märchenhaftes Ambiente aus. Woher kommt Ihre Hinwendung zum magischen Realismus?
Wir sollten nicht immer alles mit dem Verstand durchleuchten und erklären wollen. Ist es nicht schön, sich mal von der Realität zu lösen und einfach treiben lassen? Eine magische Begegnung zwischen einem kleinen Mädchen und ihrer Mutter als Kind. Ob Traum oder Film, das ändert doch nichts an der Aussagekraft. Auch ein Traum kann viel bewirken, und Filme transportieren Träume. Deshalb machen wir doch Filme und lieben sie. Ein Film kann dem Zuschauer durch die Kraft der Imagination etwas mitteilen, ihn trösten und aufmuntern oder einfach Freude bereiten. Die Baumhütte ist Symbol für ein verzaubertes Refugium, ein Ort, wo man gemeinsam etwas erleben kann. Nicht nur Kinder brauchen so ein Refugium.
"Petite Maman" startet am 17. März in den deutschen Kinos.