Kritik

Kino-Film über Reemtsma-Entführung: Hinter der Fassade

Hans-Christian Schmid blickt bewegend auf die Reemtsma-Entführung: "Wir sind dann wohl die Angehörigen".
von  Margret Köhler
Der Sohn (Claude Heinrich) und seine Mutter (Adina Vetter) mit einem verzweifelten Brief des entführten Jan Philipp Reemtsma.
Der Sohn (Claude Heinrich) und seine Mutter (Adina Vetter) mit einem verzweifelten Brief des entführten Jan Philipp Reemtsma. © Pandora Film

"Wir müssen jetzt ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden": Mit diesen Worten weckt Ann-Kathrin, die Frau des Erben der Zigarettendynastie Reemtsma und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung ihren Sohn. Es wird ein zermürbendes Warten zwischen Hoffen und Bangen.

Hans-Christian Schmid dreht fesselnde Chronologie der Ereignisse

Auf dem ersten Brief der Entführer vor Ort liegt eine Handgranate, klares Zeichen, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist. Erst nach 33 Tagen und einer Zahlung von über 30 Millionen Mark Lösegeld wurde der am 25. März 1996 in Blankenese entführte Multimillionär freigelassen.

Über seinen Leidensweg schrieb er das Buch "Im Keller". Nach über 20 Jahren meldete sich sein Sohn, der inzwischen als Musiker und Musikproduzent arbeitet, 2018 mit den autobiografischen Erinnerungen "Wir sind dann wohl die Angehörigen" – ein sehr persönlicher Blick und Basis für Hans-Christian Schmids fesselnde Chronologie der Ereignisse.

Wenn der Sohn eine diffuse Schuld fühlt

Im Mittelpunkt des Dramas über einen der spektakulärsten deutschen Kriminalfälle stehen nicht die Täter oder das Schicksal des Entführten, sondern die Angehörigen: Mutter und Sohn.

Der erst 13-jährige Johann hatte sich am Vorabend noch mit seinem bildungsbürgerlichen Vater wütend über Latein als tote Sprache gestritten. "Du willst doch nur zeigen, was du alles weißt" , wirft ihm der Filius vor, der sich nicht um Vergils "Aeneis" schert. Jetzt ist der Vater abwesend, und er fühlt eine diffuse Schuld.

Nach außen geht alles seinen Gang. Um kein Risiko einzugehen, existiert zwischen Polizei und Presse ein Stillhalteabkommen. Die offiziellen Angehörigenbetreuer versuchen ihr Bestes, installieren Abhörgeräte in der Villa, sind aber schon mit dem Faxgerät überfordert. Ein Freund der Familie kümmert sich um den Jungen, der sich mehr und mehr einigelt, ein befreundeter Anwalt versucht die Geldübergabe zu organisieren, die mehrmals scheitert, die Kommunikationspannen nehmen zu.

Anti-Thriller über Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit

Bis Ann-Kathrin die Polizei außen vorlässt und gemäß dem Wunsch ihres Mannes in einem seiner verzweifelten Briefe die minutiös inszenierte Geldübergabe von einem Pfarrer übernehmen lässt.

Schmid und sein Co-Autor Michael Gutmann fokussieren sich auf eine Familiengeschichte, auf das Dreieck Vater, Mutter, Sohn. Sie machen aus dem psychologisch spannenden Stoff keinen klassischen Entführungs-Thriller, sondern einen Anti-Thriller über Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit, verweigern sich dem im Fernsehen abgenudelten True-Crime-Format, lassen eine große Verantwortung gegenüber den Zeitzeugen spüren.

Und sie urteilen nicht über die zahlreichen Fehler der Polizei. Deren Interesse ist die Erfassung der Täter, auch auf die Gefahr von Kollateralschäden. Die Familie aber will unter allen Umständen das Leben des Entführten retten.

Alles stimmt in Schmids Film: die dichte Atmosphäre, die Fakten, die (unterdrückten) Emotionen. Das ist auch den überragenden Schauspielern zu verdanken. Nicht nur den Hauptdarstellern, dem jungen Claude Heinrich und Adina Vetter, sondern ebenso den glänzenden Nebendarstellern wie Justus von Dohnányi als eitler, sich überschätzender Anwalt oder Fabian Hinrichs als von sich überzeugter Einsatzleiter.


Kino: ABC, City, Monopol - Regie: Hans-Christian Schmid (D, 119 Minuten)

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