Ausnahme-Regisseur Kenneth Lonergan inszenierte ein außergewöhnliches Drama um Trauma und Schuld mit einem brillanten Casey Affleck in der Hauptrolle.Heidi Reutter
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Universal Pictures / Courtesy of Amazon Studios / Claire Folger Der Schmerz sitzt tief: Randi (Michelle Williams) und Lee (Casey Affleck) können nicht mehr zueinander finden.
Augen auf bei Kenneth Lonergan! Seitdem er für das Drehbuch seines Erstlings "You Can Count on Me" (2000) eine Oscar-Nominierung erhielt, gilt der Filmemacher, der mit Scorsese das Drehbuch
zu "Gangs of New York" (2002) schrieb, unter Cineasten als Geheimtipp. Sein neuestes, nunmehr drittes Regie-Werk "
Manchester by the Sea" offenbart das bemerkenswerte Potential des New Yorkers. Das präzise inszenierte Drama war für fünf Golden Globes nominiert und gilt als Oscar-Favorit. Hauptdarsteller Casey Affleck ("Die Ermordung des Jesse James
durch den Feigling Robert Ford", 2007) durfte für seine großartige Performance den
Golden Globe als Bester Schauspieler entgegennehmen. Lee Chandler (Casey Affleck
) arbeitet als Hausmeister in Boston; ziemlich leidenschaftslos kümmert er sich um die Anliegen der Bewohner. Sein Leben, das ist vor allem Routine und Gleichförmigkeit; hin und wieder besäuft er sich in der nächsten Bar. Als Lee die Nachricht erhält, dass sein Bruder Joe (
Kyle Chandler
) gestorben ist, muss er sein selbst gewähltes Schneckenhaus verlassen und zurück in seinen Heimatort Manchester-by-the-Sea, den er vor langer Zeit verlassen hat. Lee soll sich um seinen 16-jährigen Neffen Patrick (Lucas Hedges) kümmern, der sich in seiner Sturm-und Drang-Phase befindet. Aber die Rückkehr an den Ort seiner Vergangenheit reißt bei Lee tiefe, alte Wunden auf, die ohnehin keine Chance auf Heilung haben. Erst recht nicht, als er seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) begegnet ... Regisseur Lonergan, der auch das Drehbuch
schrieb, lässt den Zuschauer lange darüber im Unklaren, was eigentlich passiert ist. Zunächst gilt sein Fokus seiner traumatisierten Hauptfigur, dessen Unbeholfenheit in manchen Situationen durchaus komisch ist. Was Lee zu dem gemacht hat, was er ist - das Drama seines Lebens, ausgelöst durch die Unaufmerksamkeit eines Augenblicks -, das erfährt man erst allmählich, in nicht chronologisch arrangierten Flashbacks, die wie Puzzleteile nach und nach ein ganzes Bild ergeben. Dadurch gelingt es dem Regisseur
, über den ganzen Film Spannung und Anspannung zu halten. Eine Erlösung wird es nicht geben. Besonders deutlich wird dies in der Begegnung von Lee und Randi, die das Trauma der Vergangenheit für immer entzweit hat, aller Liebe zum Trotz. Die Inszenierung dieser dramatischen, zutiefst menschlichen Geschichte erfolgt dabei nicht nur elliptisch, sondern mit einer dezidierten Beobachtungsgabe, die dokumentarisch anmutet. Auch wird hier niemals der moralische Zeigefinger erhoben oder mit dem Zaunpfahl gewunken, um die Aufmerksamkeit und das Verständnis des Zuschauers einzufordern. Im Gegenteil: "Manchester by the Sea" ist ein leiser Film, der eine ergreifende Geschichte mit authentischen Figuren erzählt und peu à peu seine volle Wucht entfaltet. Das ist auch dem grandiosen Cast zu verdanken: Casey Affleck, Ben Afflecks jüngerer Bruder, zeigt glaubhaft Verletzlichkeit und Gebrochenheit, was ihn zu einem Anwärter für den Oscar macht. Bei diesem Film kann es keine Versöhnung geben. Nur die Einsicht, dass dieses Leben ja doch irgendwie weitergehen muss. Mit einem zaghaften Blick nach vorne. Gäbe es eine Sache zu kritisieren, dann nur diese: dass Lonergan ausgerechnet die melodramatische Barockmusik Adagio in G minor von Albinoni verwendet, deren schwere Schönheit durch einen inflationären Einsatz mittlerweile eine gegenteilige Wirkung entfaltet.