Joachim Król chauffiert Iris Berben nach Hamburg: "791 km"

Hier - im Film - ist es kein Streik oder Wintereinbruch, der für Stillstand sorgt, sondern der Herbststurm Herwarth. Nix geht mehr am Münchner Hauptbahnhof. In der Menge ein Pärchen, das sich anzofft und etwas abseits eine ruhig wirkende, nicht mehr ganz junge Frau. Die Drei kapern ein Taxi mit leuchtendem Freizeichen auf dem Dach, vom Fahrer keine Spur. Egal. Schnell entschlossen wuchten sie ihr Gepäck in den Kofferraum und schieben einen schwarzen Anzug in die Ecke, machen es sich im Inneren bequem, wo schon ein verschlossenes Mädchen hockt.
München - Hamburg in einer Nacht
Als der Taxifahrer (Joachim Król) zurückkommt, ist er nicht "amused" über die ungebetenen Gäste. Nach Hamburg? Er wollte alleine nach Bad Bramstedt fahren. Das Wedeln mit Taxi-Gutscheinen stimmt ihn um, und er gibt Gas: 791 Kilometer, die Entfernung zwischen den zwei Städten, können ganz schön lang und stressig werden.
Los geht die nächtliche Reise mit erst einmal schönen Münchenbildern. Da strahlen von Außen die Türme der Frauenkirche hinein, glänzt das BMW-Gebäude, leuchtet die Allianz-Arena magisch. Aber im Autos geht es nicht harmonisch zu, da kommt vieles zur Sprache, wird gestritten, gelacht, geweint.
Die Alt-68erin macht Freiübungen
Mit Drehbuchautor Gernot Grisch heckte Regisseur Tobi Baumann die Tücken der Zwangsgemeinschaft auf engstem Raum aus, die verschiedenen Erfahrungswelten und Ideologien, die emotionalen Stolpersteine. An Konfliktpotenzial mangelt es jedenfalls nicht.
Da ist Marianne (Iris Berben), Alt-68erin und ehemalige Professorin für Linguistik und Soziologie, die sich schon bei Demos in Brokdorf mit der Polizei anlegte und im Herzen Rebellin geblieben ist. Tiana (Nilam Farooq) wiederum ist eine ehrgeizige Start-up-Unternehmerin mit iranischen Wurzeln, die am nächsten Morgen ihr Projekt einem Geldgeber in Hamburg vorstellen muss. Und mit dabei sind noch ihr antriebsloser Schluffi-Freund Philipp (Ben Münchow) und die etwas geistig behinderte, mehr zufällige Mitfahrerin Susi (Lena Urzendowsky) in knallroter Daunenjacke.
"Ungeduld ist ein Hemd aus Brennnesseln"
Bis zum Ziel am frühen Morgen zerreißen Lügengespinste, lösen sich Illusionen auf, kommen Wahrheiten ans Licht sowie vergessene Sehnsüchte und verdrängte Hoffnungen. Die Tragikomödie wirft dabei Themen ohne Ende auf: Klimawandel, böse Fleischesser, Bürokratie, Mutterschaft oder Frauenbewegung, Angst vor dem Tod in Einsamkeit - und lässt alles schnell im Nirgendwo versickern. Auch die Figurenzeichnung könnte schärfer sein.
Lockere Sprüche wie "Sitzen ist das neue Rauchen" oder "Ungeduld ist ein Hemd aus Brennnesseln" können das nur marginal überdecken. Die Fahrt wird nur durch Pinkelpausen unterbrochen, wo Marianne ein paar Streckübungen macht (Kommentar von Joseph: "Jetzt turnt Rosa Luxemburg auch noch"). Und Susi erfährt, warum Tiana keine Tampons mehr benötigt.
Skurrile Schicksalsgemeinschaft mit tollen Schauspielern
Wie gut, dass diese skurrile Schicksalsgemeinschaft mit tollen Schauspielern besetzt ist. Allen voran Joachim Król als vom Leben gebeutelter Underdog am Steuer, der seine Gewerkschaftsideale an den Haken gehängt hat und in einer Gesellschaft sozialer Ungleichheit ums Überleben kämpft, mit elitären Sprüchen und links-bourgeoisen Attitüden wenig anfangen kann und sich nicht in schöne Worte flüchtet und wie so viele in diesem Land den unbedachten Satz hinwirft: "Ich bin kein Rassist, aber...".
Im Laufe der Fahrt erfährt man einiges: Warum er bei jedem Blaulicht zusammenzuckt und einen schwarzen Anzug mitgenommen hat. Warum Marianne oft seltsame Begriffe benutzt und das Gefühl hat, sich langsam aufzulösen, warum Tiana sich von Philipp trennen will und der sich ihr unterordnet, Susi aus ihrer betreuten Wohngruppe ausgebüxt ist.
Und wenn es dann noch aus dem Radio tönt "Lean on me. When you're not strong. I'll help you carry on..." dann mag man diese zusammengewürfelte Runde trotz Macken und Mängel oder gerade deshalb.
Kino: Arri, Cinemaxx, Mathäser, Sendlinger Tor
R: Tobi Baumann
(D, 119 Min.)