Isabelle Huppert: "Fast wie in einem trunkenen Zustand"
Mit "Elle" hat Regisseur Paul Verhoeven einen packenden Oscar-Kandidaten abgeliefert. Hauptdarstellerin Isabelle Huppert spielt ein Vergewaltigungsopfer, das sich nicht als solches fühlt. Die AZ hat sie zum Interview getroffen.
Sie ist seit Jahrzehnten erfolgreich und derzeit ganz besonders: Isabelle Huppert in Paul Verhoevens "Elle". Kritikerpreise, Golden Globe, vielleicht auch bald den "Oscar". Wie schon bei Michael Haneke, Claude Chabrol oder Benoït Jacquot spielt sie eine schillernde Frauenfigur, die ihre Gefühle hinter einer Maske versteckt. Ein Vergewaltigungsopfer, das sich nicht als Opfer fühlt. Bei der Premiere in Cannes sorgte die Härte des Films für Diskussion. Die französische Diva pflegt auch im Gespräch ihr Markenzeichen, Kühle und Unnahbarkeit. Im Pariser Grand Hotel an der Oper zeigt die 63Jährige Starallüren, kommt 50 Minuten zu spät zum Interview.
Bei der Verleihung der "Golden Globes" hielt Meryl Streep eine sehr politische Rede. Würden Sie sich auch politisch äußern?
ISABELLE HUPPERT: Die meisten Filme sind bereits ein politisches Statement und sprechen für sich. Das reicht, um die Stimme zu erheben.
Empfinden Sie eine Verantwortung für den französischen Film?
Das wäre übertrieben. Ich Freude mich aber über das riesige Interesse in USA, das zeigt sich nicht nur bei den "Golden Globes". Die Auszeichnung für "Elle" halte ich für einen großen Schritt zur Anerkennung unseres Filmschaffens. Ich habe mich sehr wohl gefühlt in Amerika, die Kollegen sind sehr offen, bereiten jedem einen warmherzigen Empfang.
Sind die zahlreichen Preise auch ein Sieg über den Jugendwahn? Sie sind so erfolgreich wie nie.
Über das Alter denke ich nicht nach.
Amerikanische Schauspielerinnen sollen die Rolle abgelehnt haben.
Ich war nicht von Anfang an in das Projekt involviert, aber beim Lesen des Drehbuchs wusste ich sofort, das ist eine einmalige Chance und eine faszinierende Story, sehr komplex und herausfordernd, sehr abgründig und provozierend. Bei der Rollenwahl spielt auch Intuition mit, das Bauchgefühl, die Lust an einem unbekannten filmischen Abenteuer.
Der Film beginnt mit einer harten Vergewaltigungsszene. War die besonders schwierig zu drehen?
Die Herangehensweise ist eine technische und es gibt viele Schnitte. Paul Verhoeven schafft es, die Gewalt intensiv aussehen zu lassen, ohne dass ich als Schauspielerin davon betroffen bin. Solche Szenen sind aber Arbeit, harte körperliche Arbeit.
Erforderte dieser Part einen speziellen Mut?
Mut ist die Voraussetzung für meinen Beruf. Ich schaue genau auf das Drehbuch, die Figur und den Regisseur. Ganz vorne stehen Vertrauen und Respekt, eine Form von Komplizenschaft zwischen Schauspielerin und Regisseur. Ohne die geht bei einem Film wie "Elle" gar nichts. Wenn diese Vorbedingungen erfüllt sind, kann nichts mehr passieren. Ich bin in total in die Figur eingetaucht. Wenn man wirklich gepackt ist, vergisst man, dass man vor der Kamera steht. Die Dreharbeiten dauerten zwölf Wochen und ich war fast in jeder Einstellung. Fast wie in einem trunkenen Zustand.
Was reizt sie an dieser Frau, die sich nicht als Opfer fühlt, sondern vielmehr als Rächerin handelt?
Sie ist weder das eine noch das andere, sondern irgendwo dazwischen, ein völlig neuer Typus von Frau, die nicht zusammenbricht und nie aufgibt, die man nicht unbedingt in der Metro trifft. Eine ohne Scham und mit Faible für das Böse. Das Herz des Films ist ihre Ambivalenz. Paul lässt am Set zwischen "Action" und "Cut" etwas Magisches geschehen. Diese unkontrollierten Momente sind ausschlaggebend. An ihm schätze ich, dass er immer wieder durch neue Handlungsstränge überrascht. Es bleibt doch offen, ob diese Frau weiss, was sie wirklich will, das Unterbewusstsein treibt sie zu einem irritierenden Verhalten, was natürlich auch mit ihrer Vergangenheit zu tun hat. Es gibt nicht für alles eine Lösung im Leben, oft stehen wir fassungslos da und verstehen die Welt nicht. Die Interpretation des enigmatischen Films bleibt dem Zuschauer überlassen.
Sie verkörpern oft ein Frauenbild jenseits der Norm…
Es geht nicht um Emanzipation oder Revolution, sondern darum, Frauen in einer bestimmten Art zu zeigen, nicht unbedingt das nette und liebenswerte Weibchen. Fiktion zeichnet die Wirklichkeit oft weicher, glättet sie. Das gefällt mir nicht. Ich ziehe verstörende Charaktere ohne Angst vor Amoralität vor, was bitteres Leid nicht ausschließt.
Sind Sie so kaltblütig wie auf der Leinwand oder haben Sie auch Schwächen?
Ich glaube nicht, dass ich kaltblütige Charaktere präsentiere, die meisten meiner Figuren sind Überlebende, haben oft Schreckliches durchgemacht und verbergen nur ihre Fragilität und Mitgefühl. Michèle sanfter darzustellen, wäre ein Riesenfehler gewesen.
Vor was haben Sie Angst?
Vor dem Aufzugfahren. Mehr sage ich Ihnen nicht.
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