Interview mit Juliette Binoche und Kritik zum Film "Die feine Gesellschaft"

Die Schauspielerin Juliette Binoche über ihre Neigung zur Komik und ihren neuen Film "Die feine Gesellschaft".
Adel und Großbürgertum sind schöne Projektionsflächen – und dann noch alles in der nostalgischen Belle Époque! Nur dass Bruno Dumont gleich die ganze französische Kanalküste in ihrer pittoresken Ärmlichkeit und mit ihren aristokratischen Sommerfrischlern als degeneriert darstellt, dabei trotzdem liebevoll feiert, aber eben nicht verklärt wie ein Luchino Visconti.
Es gibt grotesken Kannibalismus, für den reiche Touristen verschwinden, opulente Landpartien, ein ironisches Lächeln über eine vergangene Klassengesellschaft und wunderbare Stars wie Fabrice Luchini, Valeria Bruno Tedeschi oder eben Juliette Binoche.
Kino: ABC, Maxim, Rio, Theatiner (OmU)
Beim Filmfestival in Cannes überraschte sie mit Lust an Skurrilität und Liebe zu dekadenten Figuren. In Bruno Dumonts Burleske "Die feine Gesellschaft" spielt Juliette Binoche die bizarre Aude van Peteghem, die mit ihrer inzestuösen Adelssippe im Sommer 1910 nahe Calais Urlaub macht und auf eine arme, aber nicht weniger dubiose Fischerfamilie trifft.
AZ: Frau Binoche, so wild und enthemmt hat man sie bisher in keinem Film gesehen…
JULIETTE BINOCHE: Ich fühlte mich wie ein Kind im Süßwarenladen. Als Schauspielerin an die Substanz zu gehen und gleichzeitig über die Stränge schlagen zu können, war eine tolle Erfahrung. Ich bin froh über den späten Beginn meiner komischen Karriere und stürze mich gerne in neue Abenteuer, ohne mich auf einen Typus festzulegen. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Mit zunehmendem Alter verliert man einiges, gewinnt aber an Freiheit.
Hat Bruno Dumont Sie mal gebremst?
Im Gegenteil, er hat mich immer weiter getrieben, aber ohne das Gefühl in mir zu wecken, gegen meine Natur zu spielen. Von ihm lasse ich mich gerne manipulieren. Wir starteten ganz moderat und gingen dann voll ins Crescendo. Es gab keine Grenzen. Was zählte, war der Spaß an der Sache und etwas Unbekanntes auszuforschen. Zur Vorbereitung guckte ich mir eine Dokumentation über die Schauspielerin Cécile Sorel an, trotz aller Ernsthaftigkeit eine sehr extravagante und total durch geknallte Figur für die Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die inzestuösen Beziehungen und die Dekadenz der bourgeoisen Film-Mischpoke fand ich wunderbar verrückt.
Was halten Sie von dieser "feinen Gesellschaft"?
Sie ist dem Untergang geweiht, wird nur durch Herkunft und Geld zusammen gehalten und durch die Angst vor den armen Einheimischen. Das erinnert mich an die heutige Situation bei uns. Da befürchten wir, dass Migranten uns beklauen, uns Jobs und Wohnungen wegnehmen und unseren Wohlstand zerstören. Totaler Schwachsinn. Über Generationen aufgebaute Haltung aufzubrechen, ist schwierig.
Komödie oder Drama. Wofür schlägt Ihr Herz mehr?
Es gibt nie nur Schwarz oder Weiss. Komödien rühren unsere Herzen, zum Menschen gehört auch das Lachen. Und ich lache gerne. Humor dient nicht nur als Strohhalm, wenn uns das Wasser bis zum Halse steht. Melancholie ist das Zeichen eines verlorenen Paradieses. Jeder Film erinnert mich an ein Gemälde. Auch Picasso hatte verschiedene Schaffensperioden. Es ist immer offen, wie ich mich am Ende des Tages fühle.
Wie wählen Sie Ihre Rollen aus? Sie haben sogar einen Part in "Jurassic Park" abgelehnt.
Ich habe schon viele Rollen ausgeschlagen, und diese Art Actionfilme interessieren mich nicht. Ich will als Filmfigur eine Entwicklung durchmachen. Wer sich nur auf das ewig Gleiche verlässt und die Neugier vernachlässigt, wird sich nie ändern. Da ich die englische Sprache beherrsche, eröffnen sich international Chancen und die Möglichkeit, mit neuen Regisseuren zu arbeiten. Aber man muss aufpassen, nicht in einer Schublade zu landen. Ich liebe neue Herausforderungen, auch körperliche. Deshalb tanze ich mit dem größten Vergnügen, auch wenn nicht überhaupt nicht tanzen kann.
Interview mit Juliette Binoche: Geboren 1964 in Paris. Ihr Kino-Debüt gab sie 1985 in Jean-Luc Godards "Maria und Joseph". 1987 bekam sie für "Der englische Patient" einen Oscar.