Heidi: Landluft macht frei

Sehr gelungen: Die Neuverfilmung von „Heidi“ ist nahe an Johanna Spyris Original – und frei von Kitsch. Nichts erinnert mehr an die Anime-Version aus den 70er-Jahren oder die klassische Heimatfilm-Version der 50er.
von  Adrian Prechtel

Je mehr Städter, desto stärker die Landlust. Stadtluft macht nicht mehr frei, uns ruft der Freizeit-Berg. Und wenn der Schweizer Regisseur Alain Gsponer jetzt eine neue Heidi-Verfilmung gewagt hat, trifft er auf unsere kitschsüchtigen Romantisierungswünsche, die wir auf ein Mädchen projizieren, dessen Welt die Berge sind: ein unverdorbenes Leben im Sinne des französischen Zurück-zur-Natur-Aufklärers Rousseau.

Alles Verklärungsfallen. Aber Gsponer und Drehbuchautorin Petra Volpe machen alles richtig, indem sie sich stark an die Heidi-Bücher von Johanna Spyri halten, vor allem an das erste, bekanntere „Lehr- und Wanderjahre“. Denn Spyri hat bei aller religiös eingefärbten, letztlich konservativen Weltsicht die Härte und Enge des Alpenlebens klar vor Augen.

Volpe und Gsponer haben aus dem Kindheitsdrama von 1880 nicht krampfhaft eine aktuelle Scheidungskindgeschichte gemacht. Und dennoch bleiben viele Fragen auch für uns heute klar gestellt: Wo findet ein Kind Sicherheit und Geborgenheit? Wo bleiben ungetaktete Lebenszeit, unbeaufsichtigtes Abenteuer, unpasteurisierte Milch? Und generell: Wo ist der richtige Ort für mein Leben? Das sind bei einem Waisenkind, das sich überlebensklug anpassen muss, eben nicht nur die Berge. Und so ist das gehass-liebte Frankfurt der reichen Sesemanns ein Gegenort zur Bündner Almhütte – aber eben auch wichtige Welterfahrung.

 

Mitleid mit der verstoßenen Heidi

 

Gsponer schickt in diese Welt mit Anuk Steffen einen sanft modernen Heidi-Typ , der auch etwas von einer emanzipierten Ronja Räubertochter hat. Das Hochdeutsch bekommt nur einen deutlichen Schweizer Tonfall. Geglättet ist aber nichts: Mit brutaler Egozentrik verweigert der menschenfeindliche Großvater (Bruno Ganz) Heidi in der ersten Nacht das Obdach, als Tante Dete sie auf der Alm abgibt. Heidi übernachtet auf der Türschwelle und im Stall. Und als der Großvater sie zurück hinunter ins Dorf zu Dete schicken will, sagt sie den wahrhaften Satz ihrer Schutzlosigkeit: „Aber die will mich ja auch nicht!“ In solchen Kinomomenten trennt sich die Spreu vom Weizen. Denn wenn hier die Sentimentalität siegt, fließen zwar im Zuschauerraum Tränen, aber es sind verzuckerte. Überhaupt gelingen Gsponer existenzielle Gefühle ohne Kitsch.

Diese Heidi-Verfilmung ist ein Befreiungsschlag von der japanischen Anime-Kindchenschema-Version der 70er und der Heimatfilm-Version der 50er. Wenn sich am Ende alles zum Guten wendet, bleiben originelle Fragen offen: Was, wenn diese wunderbar spielerische, wenn auch vom Ernst des Lebens schon gebeutelte Heidi älter wird? Was, wenn ihre Kinderliebe, der einfache Geißenpeter, mit ihrer Weltgewandtheit nicht mehr mithalten kann? Heidi als Teenie: Das wäre noch eine wunderbare erzählerische Herausforderung, wenn die zurückgewonnene Bergwelt ihr doch zu eng und klein wird.

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