Francois Ozon: Die Entdeckung der Liebe

Er ist unberechenbar und immer für eine Überraschung gut: Frankreichs Meisterregisseur François Ozon liefert mit "Sommer 85" ein zärtliches Coming -of-Age-Drama. Ozon ließ sich von Aidan Chambers' Roman "Tanz auf meinem Grab" inspirieren und schuf einen Film über die erste Liebe des schüchternen 16-jährigen Alexis zum erfahrenen 18-Jährigen David, eine Liebe voller Leidenschaft und Tragik.
AZ: Monsieur Ozon, Sie wollten den Roman "Tanz auf meinem Grab" schon vor 35 Jahren verfilmen. Was hat sie gepackt, dass Sie jetzt endlich daran gewagt haben?
François Ozon: Mir gefiel diese zarte Liebesgeschichte, die mich damals schon berührt hat. Die meisten Filme oder Bücher über Homosexualität handelten von Schuld und Leid und hier gab es etwas sehr frisches und strahlendes, etwas universelles. Ich habe den Roman mit 17 gelesen und sagte mir, wenn ich meinen ersten Film mache, wird der es sein. Wahrscheinlich wäre er ganz anders gewesen als heute. Dann dauerte es doch 35 Jahre, vielleicht brauchte ich eine gewisse Reife. Filme suchen sich immer den richtigen Moment.
Es ist ihr 19. Film. Ich habe den Eindruck, dass Sie irgendwann den Rekord von Claude Chabrol brechen, wenn Sie in diesem Tempo weiterdrehen.
Ich zähle nicht mehr. Aber Chabrol war schneller als ich, er schaffte oft zwei Filme in einem Jahr, ich bringe es nur auf einen. Und Rainer Werner Fassbinder habe ich auch noch nicht erreicht. Aber mir bleibt ja noch Zeit.
"Sommer 85" passte in die Stimmung nach den Monaten des ersten Lockdowns.
Wir haben vor der Pandemie gedreht und als der Film nach der ersten Covid-19-Welle im Juli vergangenen Jahres ins Kino kam, waren die Leute hungrig nach Leben. Sie wollten einfach wieder Menschen sehen, die sich umarmten, liebten und küssten. Auch wenn in den 1980er Jahren nicht alles rosig war - Spannungen mit den USA, Arbeitslosigkeit in Frankreich und die Anfänge von Aids, die ihren Schatten warfen, die Zahlen explodierten allerdings mehr in den Städten als in der Provinz. Aber wir Menschen vergessen gerne die negativen Seiten und erinnern uns liebe an das Schöne. Den Film heute zu sehen, weckt auch eine Art Nostalgie für diese Zeit.
Francois Ozon: "Es ist ein sehr persönlicher Film"
Was haben Sie damals gemacht?
Ich war an der Uni und habe das Leben entdeckt, die Freiheit, die Musik von The Cure und The Smiths und die Sexualität. Aber ich werde jetzt nicht aus dem Nähkästchen plaudern. Es ist ein sehr persönlicher Film, eine Mischung aus meiner eigenen Jugend und dem Buch. Dessen Handlung spielt an der Südostküste Englands, ich habe sie in die Normandie verlegt.
Hatten Sie nach einem sehr strengen Film wie "Gelobt sei Gott" wieder die Lust auf etwas Befreiendes?
Bei "Gelobt sei Gott" stand ich ziemlich unter dem Druck der Kirche, wusste nicht, ob der Film starten konnte, es drohte ein Prozess und dann noch die teilweise quälenden Diskussionen, das war alles sehr belastend und da habe ich wieder zum Roman gegriffen und mich entschlossen, ihn zu adaptieren. Die Leichtigkeit, Jugend, Sommer, Strand und Sonne, sogar in der Normandie, das war toll. Und dann die Mode, die Ausstattung, die Musik, da geht einem doch das Herz auf. Allerdings ist nichts so einfach, wie es aussieht. Wenn man mit jungen Schauspielern arbeitet, kostet das viel Energie, manchmal fühlte ich mich wie ein alter Mann.
Der Plot ist zwischen Liebesgeschichte und Krimi angesiedelt. Man ist 100 Minuten gespannt auf das, was kommt, obgleich bereit zu Beginn auf das tragische Ende hingewiesen wird.
Ich habe die Struktur der literarischen Vorlage übernommen. Das Publikum erfährt bröckchenweise, was passiert ist, ich wollte nicht zu viel verraten. Mich hat es gereizt, dass wir uns im Kopf von Alex befinden, der den Sachverhalt nur mit großen Schwierigkeiten genau erzählen kann. Man teilt seine Emotionen und auch seine Idealisierung der Beziehung Dieses Spiel mit Überraschungen und den Erwartungen der Zuschauer reizt mich ungemein. Sie können ihre schlimmsten Fantasien entwickeln und sich Gedanken machen, und dann führe ich sie behutsam auf die Spur dessen, was wirklich geschah.

Waren die 1980er Jahre nicht manchmal offener und freier als heute?
In den Ideen ja, aber nicht im Alltag. Damals gab es vieles, worüber man nicht sprach, es herrschte Schweigen über unbequeme Themen. Heute haben wir die Moralkeule, spüren wir eine unausgesprochene Zensur. Der Trend zum neuen Puritanismus kommt aus den USA. Es gibt gegensätzliche Strömungen: Die Gleichheit zwischen Männern und Frauen war längst überfällig und notwendig, gleichzeitig muss man sich als Künstler nun aber schon überlegen, was man sagt. Die Balance in der Welt stimmt nicht mehr.
"Für mich zählt der Begriff Humanität"
In Deutschland diskutieren wir über Diversität und die Frage, ob Homosexuelle nur noch von Homosexuellen gespielt werden dürfen, Transmenschen nur von Transmenschen etc.
Das halte ich für absolut lächerlich. Dann dürfte ich ja auch keine Filme mehr über Frauen machen. Für mich zählt der Begriff Humanität, egal ob Mann oder Frau. Genre und Geschlecht haben da keine Bedeutung. Im Kino geht es darum, den besten Schauspieler für eine Rolle zu bekommen und nicht, sich an Geschlechtskriterien festzubeißen. Diese Art von Quotierung ist falsch. Wir wollen uns nicht zwingen lassen, Propagandafilme zu drehen. In Frankreich sehe ich dieses Problem auch nicht, wir haben populäre arabische Schauspieler, Stars mit ausländischen Wurzeln sind keine Seltenheit wie Omar Sy, Sohn eines senegalesischen Einwanderers oder César-Gewinner Roschdy Zem mit tunesischer Abstammung. Auch der Akzent spielt keine Rolle, denken Sie an die unvergessliche Romy Schneider.
Wie haben Sie Ihre beiden Jungs gefunden, beides Newcomer?
Ich habe sehr früh mit dem Casting begonnen, sogar bevor das Drehbuch fertig war. Ohne die richtige Besetzung hätte ich den Film nicht gedreht. Bei Félix Lefebvre hat mich sein Lächeln, seine Lebendigkeit und sein melancholischer Blick sofort überzeugt, der optimale Alex. Als David suchte ich einen körperlich dominanten Charakter mit einer bestimmten Wildheit, über die verfügt Benjamin Voisin. Und die Chemie zwischen ihnen stimmte vom ersten Moment an, sie tragen den Film auf ihren Schultern.
Es gibt mehr Romantik als Sex.
"Sommer 85" ist ein Film über die Sehnsucht, die erste Liebe und eigentlich sehr schamhaft. Ich habe gemerkt, für die neue Schauspieler-Generation macht es keinen Unterschied, ob sie einen Homo- oder einen Heterosexuellen darstellen. Als ich in den 1990er Jahren anfing, gab es noch Schauspieler, die sich weigerten einen Homosexuellen zu spielen. Auch bei den Sexszenen merke ich jetzt eine größere Offenheit. Wenn eine Szene wichtig für den Film ist, haben sie keine Probleme.
Viele Ihrer Kollegen arbeiten für Netflix.
Ich drehe Filme fürs Kino. Wir sind an das digitale Drehen gewöhnt, aber bei einem historischen Film arbeite ich gerne mit klassischem Material, mit 16 mm. Das habe ich schon bei "Frantz" gemacht und jetzt auch bei "Sommer 85". Da sind die Farben kräftiger und sinnlicher und auf großer Leinwand unschlagbar. Und ich will die große Leinwand nutzen. Solange ich meine Kinofilme finanziert bekomme, bleibe ich dem Kino treu. Diese ganzen digitalen Plattformen erinnern mich immer an einen Supermarkt, da geht es zu wie auf einem Grabbeltisch. Die Filme haben nur ein kurzes Leben. Und die Menschen kommen gerne zurück, das sieht man an den Zuschauerzahlen seit der Wiederöffnung der Kinos in Frankreich. Sie haben die Nase voll von irgendwelchen Streamern, sie wollen großes Kino und große Emotionen, nicht den kleinen Monitor.
Gucken Sie Filme auf Netflix?
Am Anfang ja, aber inzwischen mir dieser Wust zu viel. Ich schaue lieber alte Filme und Klassiker. Und ich gestehe: Serien wie wir alle.
In Cannes präsentieren Sie in wenigen Tagen Ihren Film "Tout s'est bien passé" nach den Erinnerungen der 2017 verstorbenen Emmanuèle Bernheim. Freuen Sie sich schon?
Ich bin glücklich, dass das Festival in diesem Jahr stattfindet und nicht ausfällt wie im vergangenen Jahr, wo "Sommer 85" eingeladen war. Mein neuer Film handelt von aktiver Sterbehilfe. Eine starke Vater-Tochter-Beziehung mit den phänomenalen Schauspielern Sophie Marceau und André Dussollier. Ich bin schon wahnsinnig gespannt auf Cannes. Drücken Sie mir die Daumen.
Sa, 3. 7., 17 Uhr, Astor Filmlounge im Arri, So, 4.7., 21.15 Uhr, Institut Français