Filmkritik: Begabt - Die Gleichung eines Lebens
Wunderkinder und das Thema Hochbegabung üben eine Faszination aus. Als mir mit sieben Jahren von einem Psychologen bescheinigt wurde, ich sei hochbegabt, dachte ich "Jackpot". Nie wieder lernen! Ich gehörte nun zu den zwei Prozent, die einen IQ über 130 haben und somit als hochbegabt gelten. Die Freude war von kurzer Dauer.
Nun hatte ich zwar eine Erklärung, warum ich morgens in die Grundschule wollte, um meine Freunde zu sehen, dort angekommen aber eine innere Stimme mich vor dem Klassenzimmer erstarren und heulend vor der Tür zurückließ. Nach dem Überspringen einer Klasse versuchte ich nur noch, nicht aufzufallen.
Ganz anders ergeht es der 7-jährigen Mary (McKenna Grace) in dem berührenden Familiendrama "Begabt – Die Gleichung eines Lebens". Bereits an ihrem ersten Schultag hält sie die Langeweile kaum aus und verblüfft alle mit ihren mathematischen Fähigkeiten.
Die Hoffnung ihres Onkels Frank Adler, eines ehemaligen Philosophieprofessors (Chris Evans), bei dem sie nach dem Tod ihrer Mutter in Florida aufwächst, dass Mary in der Schule ihre sozialen Kompetenzen mit gleichaltrigen Kindern verbessern könnte, bewahrheitet sich nicht.
Während Frank Mary eine unbeschwerte Kindheit ohne Leistungsdruck ermöglichen möchte, indem er sie spielerisch fördert, verfolgt seine Mutter Evelyn (Lindsay Duncan), die genau wie Marys Mutter Mathematikerin ist, ganz eigene Pläne für ihre Enkelin. So landet der Fall Onkel gegen Großmutter vor Gericht.
Wie nun mit begabten Kindern umgehen, dass weder zu viel Druck die Kindheit überschattet, noch die soziale Komponente vernachlässigt wird und am Ende vor allem ein glücklicher Mensch heranwächst, der gleichzeitig seine Talente nicht verschwendet?
Im Film ist der Besuch einer Privatschule mit spezieller Förderung für Ziehvater Frank keine Lösung. Für mich war dies schließlich meine Rettung, auch wenn ich einen hohen Preis zahlte. Denn mit 12 Jahren verließ ich mein Elternhaus, um ein Internat in Mecklenburg-Vorpommern zu besuchen. Weit weg von daheim.
Richtig glücklich war ich dort nicht, aber es war damals die einzige realistische Lösung, um irgendwie ein Abitur in den Händen zu halten. Bis dahin hatte ich nur schlechte Noten nach Hause gebracht. Jedes Kind ist anders und so gibt es eben keine Universallösung.
Das Filmskript von Tom Flynn versucht, – nicht immer gelingt es – nicht nur die Herausforderungen eines hochbegabten Kindes in der Gesellschaft zu porträtieren. Gezeigt werden auch glaubhaft die soziologischen, ökonomischen wie emotionalen Folgen für die ganze Familie. Schade ist jedoch, dass auf die persönlichen Bedürfnisse der kleinen Mary im Film wenig eingegangen wird.
So wird – unabhängig von diesem Film – oft eine Chance verpasst, wenn wir der Meinung unserer Kinder zu selten trauen und ihnen nicht zuhören. Die Thematik betrifft nämlich jedes Kind, wenn es darum geht, Talente zu entdecken und entsprechend zu fördern – ob hochbegabt oder nicht.
Der Film kann sich den Hollywood-Klischees der Darstellung von Hochbegabung nicht entziehen, hat dabei aber ungeheuer viel Herz, nicht zuletzt dank des entwaffnenden Charmes der Hauptdarstellerin McKenna Grace. Wie die kleine Mary mit ihrem Ziehvater über Gott philosophiert, ist die zauberhafteste Szene, die ich seit langem gesehen habe.
Am Ende kann man sich auch selbst die Frage stellen: Gibt es ein richtiges Leben im Unausgelebten? Sollte danach gestrebt werden oder hat man gar die Pflicht, das eigene Potenzial auszuschöpfen, auch wenn es nicht zwangsläufig mit dem eigenen Streben nach Glück einhergeht oder gar kollidiert? Dass der Film "Begabt" am Ende versucht, eine Lösung für dieses Dilemma anzubieten und eine zuschauerfreundliche und konsensfähige noch dazu, ist vermutlich erzählerische Schwäche und emotionale Stärke zugleich.
Kino: Münchner Freiheit; Gabriel (auch OmU); Museum (OV) Regie: Marc Webb (USA, 101 Min.)
Buch: Von Christiane Stenger ist zuletzt das Buch "Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbeaufsichtigt! Gebrauchsanweisung für Ihren Kopf" (Campus, 9.90 Euro) erschienen
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- Abitur