Filmfestspiele in Venedig: Viel Mut und noch mehr Fragen
Venedig – Es gibt dieses Paradox: Etwas ist ein "Geheimtipp" oder einzigartig. Und dann fahren alle hin - und alles ist hin. Als Italien im Frühjahr die makabere Avantgarde der europäischen Corona-Länder war, gingen die faszinierenden Bilder von Venedig als Geisterstadt durch die Medien. Man erzählte von den Kanälen, auf deren Grund man schauen konnte, von der architektonischen Erhabenheit des Markusplatzes, von dem sogar die Tauben verschwunden waren: Die Massenfütterung war weggefallen.
Zwar sind Chinesen, Amerikaner und Japaner immer noch nicht zurück. Auch die optisch die Stadt verzwergenden Kreuzfahrtriesen fahren nicht mehr durch den Guidecca-Kanal. Die Stadt und die Vaporetti sind gut gefüllt, das Lagunenwasser gewohnt aufgewühlt grün-bräunlich. Etwas zu früh für die ohnehin coronabedingt distanzierte Festivalstimmung haben Wärmegewitter über dem Lido die etwas kühlere Herbstsaison eingeleitet.
Venedig sticht aus diesem katastrophalen Kinojahr heraus
Während Italien sich um ein maskenpflichtiges, aber halbwegs normales neues Schuljahr bemüht, hat auch der ruhige, immer souveräne Festivaldirektor Alberto Barbera eine Meisterleistung vollbracht. Denn das wichtigste internationale Filmfestival in Cannes hatte im Mai vor Corona die Segel gestrichen und nur eine "Empfehlungsliste" von gut 50 Filmen veröffentlicht, die sie gerne gezeigt hätten.
So aber könne man die Filme nur moralisch unterstützen. Das ist peinlich, und es wäre sauberer gewesen, das Festival als das zu nehmen, was es war: ausgefallen wie Locarno und Karlsbad.
Venedig sticht aus diesem katastrophalen Kinojahr heraus. Und es ist ein Triumph, dass alle wichtigen europäischen Festivalleiter zur Eröffnung kommen: als Hommage an die Courage! Denn Alberto Barbera hat sein Festival dem Innen- und Kulturminister abgetrotzt: durch harte Hygiene-Auflagen. In Italien gilt nur eine Ein-Meter-Abstandspflicht. Sie hat die Platzzahl in den großen Festivalkinos nur halbiert. Auch die Presse muss jeden Platz 72 Stunden vor Filmstart buchen. Beim Betreten wird elektronisch Fieber gemessen und innerhalb des total abgezäunten Festivalgeländes am Meer wird jeder Aufenthaltsort registriert.
Venedig: Open-Air-Kinos für die Gäste
Aber weil sich die Mostra Internationale d' Arte Cinematografica seit Gründung 1932 als Publikumsfestival versteht, die Säle am Lido jedoch komplett für Presse und Filmindustrie gebraucht werden, hat man für die Öffentlichkeit noch Open-Air-Kinos aufgebaut.
Weitere Kinos sind auch noch im San-Marco-Viertel angemietet und sogar in der Industrievorstadt Mestre, wo in einem ehemaligen Pulverlager des Kaiserreichs Österreich-Ungarn eine Diven-Ausstellung mit Bildern der vorangegangenen 76 Festivalausgaben gezeigt wird.
Was die Frage aufwirft, wer in diesen internationalen Abschottungs- und Infektionszeiten überhaupt am Lido auftauchen wird? Schließlich lebt das Festival seit Jahren von der Balance aus Kunstkino und einer Startrampe für Hollywoods Oscar-Saison.
Nur zwei US-amerikanische Filme dabei
Von den abgeschotteten USA her sind aber diesmal nur zwei Filme unter den 18 Wettbewerbsfilmen: Auch der Film der 34-jährigen Mona Fastvold. Die ist eigentlich Norwegerin, aber sie lebt schon lange in den USA. Sie soll als Star des Films "The World to Come", der im amerikanischen Westen Mitte des 19. Jahrhunderts spielt, Casey Affleck mitbringen. Dass der wegen sexueller Belästigung in den Schlagzeilen war, sieht man hier am Lido nicht so eng.
Was die Political Correctness anbelangt, versichert Barbera, dass die Schelte vom letzten Jahr, es sei nur eine Frau vertreten, ihn kalt gelassen habe. Dass diesmal acht Filme von Frauen stammen, sei rein der Qualität der Filme geschuldet, die unter den knapp 1400 gesichteten Spielfilmen eben herausstachen.
So ist auch der zweite US-Beitrag weiblich: "Nomadland" von Chloé Zhao, die wiederum Chinesin ist, aber großteils in den USA arbeitet. Sie soll als Star ihre Hauptdarstellerin Frances McDormand mitbringen, sofern nach US-Vorschriften überhaupt eine Anreise ohne anschließende Quarantäne möglich ist.
Ungewohnt: Kein Blitzlichtgewitter, keine wilden Rufe
Den Roten Teppich als Star-Schaueffekt vor den Galas kann sich in diesem Jahr keiner so recht vorstellen: Ohne wild rufende, dicht gedrängte Schaulustige und Autogrammjäger? Ohne die kompakte Fotografentreppe mit Blitzlichtgewitter? Und dann: Ab dem Eingang in den weißen Palazzo del Cinema: Maskenpflicht! Da wird man dann schauen, was zum Armani- oder Gucci-Kleid vors Gesicht passen soll.
Sicher wird die australische Jurypräsidentin Cate Blanchett im Scheinwerferlicht stehen. Tilda Swinton ist auch da, weil sie einen Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk bekommt und im Kurzfilm "The Human Voice" mitspielt, den der Spanier Pedro Almodóvar gedreht hat. Auch der, obwohl leicht hypochondrisch, hat zugesagt. Und Liedermacher und Pianist Paolo Conte kommt auch zum Dokumentarfilm, der über ihn gedreht wurde. Obwohl er mit 83 Jahren sicher zur Corona-Risikogruppe gehört. Nicht so Greta Thunberg mit ihren gerade mal 17 Jahren, über die ein schwedischer Kameramann einen Film gedreht hat.
Der einzige deutsche Beitrag: "Und morgen die ganze Welt"
Aus deutscher Sicht ist sicher interessant, dass der einzige deutsche Beitrag ebenfalls von einer Frau stammt: der Regisseurin und neuen Professorin für Spielfilm an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film, Julia von Heinz. Sie hatte mit "Ich bin dann mal weg" einen Millionenerfolg im Kino und zeigt am Lido "Und morgen die ganze Welt" - ein Drama über eine Frau, die vor der Entscheidung steht, ob Gewalt gegen die militante Rechte ein gerechtfertigtes Mittel ist.
Los geht es heute Abend aber mit einem Heimspiel: Daniele Luchetti zeigt "Lacci" - zu deutsch: "Schnürsenkel", mit den italienischen Stars Alba Rohrwacher, Luigi Lo Cascio und Laura Morante.
Und danach: Kein großes Eröffnungsfest für die geladenen Galagäste am Strand des orientalisch angehauchten Palasthotels Excelsior am Lido, dessen Doppelzimmer in diesem Ausnahmejahr ohne Hollywood-Amerikaner trotzdem noch über 350 Euro kosten.
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