Filmbiennale in Venedig: Im großen Filmmuseum

Venedig verliert seine Einwohner, aber für das Filmfest gibt es einmal im Jahr großen Trubel mit vielen internationalen Stars.
von  Adrian Prechtel
Ana de Armas verkörpert im Film "Blond" nach der Vorlage von Joyce Carol Oates die Filmikone Marilyn Monroe.
Ana de Armas verkörpert im Film "Blond" nach der Vorlage von Joyce Carol Oates die Filmikone Marilyn Monroe. © 2022 © Netflix

Venedig - Kipppunkt. Ein bedrohliches Schlagwort in der Klimakatastrophe. Ob es bei Städten auch so etwas gibt? In Venedig, wo Casanova noch zwischen knapp 200.000 Einwohnern umherstrawanzen konnte, waren es vor Corona noch 55.000.

Venedig: Folgenschwerer Zusammenbruch

Nach dem Zusammenbruch des Tourismus für zwei Jahre sind 20.000 Einwohner nicht mehr zurückgekehrt. Knapp 35.000 Venezianer sind heute noch in der Lagunenstadt gemeldet. Und in dieser fortschreitenden Musealisierung ist dann ein von der Kommune grundsätzlich beschlossener und von der Region Veneto bereits genehmigter Stadtbesichtigungs-Eintrittpreis nur noch der letzte Schritt. Im kommenden Jahr wird er fällig, noch weiß aber keiner genau, wie und wo er erhoben werden soll. Und so glaubt hier auch niemand an die Umsetzung.

Filmbiennale am Lido

Die Filmbiennale wiederum, die in diesem Jahr 90 Jahren alt wird, findet traditionell nicht in der historischen Stadt, sondern am Lido statt. Und auch dieser Ort hat eine Metamorphose hinter sich. Dass seit zwölf Jahren das "Tod-in-Venedig"-Grand-Hotel Des Bains geschlossen und vernagelt ist, zeigt, dass die mondänen Zeiten längst vorbei sind. Und das orientalische Palasthotel Excelsior schläft auch Dreiviertel des Jahres einen Dornröschenschlaf.

Lido: Nett, aber spießig

Der Lido ist somit auch nichts anderes mehr als eine nette, auch ein bisschen spießige italienische Kleinstadt, mit dem interessanten Aspekt eines langen Adriastrands fast ohne Tourismus. Denn die Capanne – die Strandhütten mit vorgestellten Liegestühlen – sind ausschließlich bevölkert von Venezianern, Lidobewohnern und Leuten aus der Industriestadt am Festlandufer der Lagune, Mestre.

Filmbiennale in Lido: Das jährliche Wunder

Aber dann passiert hier am Lido jährlich ein kleines Wunder. Innerhalb von wenigen Tagen – gegen Ende des Sommers – beginnt ein elektrisiertes Flirren. Der weiße mussolinische Palazzo del Cinema mit seinen sachlich-eleganten 50er-Jahre-Erweiterungen bekommt seinen Roten Teppich, der Platz vor dem ebenfalls 30er-Jahre Casinò ist elegant modern mit Marmorplatten belegt.

Kleine Fontänen verbreiten Piazza-Atmosphäre, eine weiße, jedes Jahr neu gezimmerte VIP-Pavillonbar mit Meeresterrasse türmt sich wichtig auf und eine Zusatzbuslinie für das journalistische Fußvolk pendelt permanent zwischen Anlegestelle und Festivalgelände, dessen Ad-hoc-Kinos zusammen knapp 6.000 Leute fassen. Sie sind durchgehend bespielt von morgens 8.30 Uhr bis nachts, wenn im riesigen Kinozelt mit 1.800 Plätzen das letzte öffentliche Double-Feature mit zwei Wettbewerbsbeiträgen des Tages nach Mitternacht endet.

Durch die Coronajahre hindurchgespielt

Die Filmbiennale hat auch durch die Coronajahre hindurchgespielt und ist mit dem Programm ihrer 79. Ausgabe ein vitaler Lebensbeweis des eigentlich angeschlagenen Kinos. Und nach vier Nicht-US-Filmeröffnungen, ist heute Abend wieder Amerika dran – mit Noah Baumbachs Don-DeLillo-Romanverfilmung "Weißes Rauschen". Es ist ein Drama über eine amerikanische Kleinfamilie (mit Adam Driver), die in der Nähe ihres Hauses im Mittleren Westen einen Chemieindustrie-Unfall erlebt.

"Festivals sind Fenster zur Welt"

Ein politischer, dramatischer Start in einer Zeit, über die der aktuelle Festivaldirektor Alberto Barbera sagt: "Festivals sind Fenster zur Welt. Und wenn ich aus dem Fenster in Venedig blicke, sehe ich viele unschöne Dinge..." Ob das Festival insgesamt sehr politisch wird, kann man erst rückblickend sagen. Im Wettbewerb mit seinen 23 Filmen ist auch ein Werk des Iraners Jafar Panahi, der zum wiederholten Mal verhaftet wurde und natürlich nicht nach Venedig zur Weltpremiere von "No Bears - Keine Bären" kommen kann.

Große Konkurrenz mit Cannes

Trotz der großen Konkurrenz mit Cannes sind auch die Franzosen mit fünf Filmen stark vertreten, wie auch die gastgebenden Italiener. Abermals ist der deutsche Film wiederum komplett absent. Der einzige Film ist hier "Aus meiner Haut" des Studentenoscargewinners Alex Schaad, aber das in einer inoffiziellen Reihe, der Settimana della Critica.

Wettbewerbsfilm "Tár" spielt in Deutschland

Lars Eidinger wiederum hat zwar im Eröffnungsfilm "White Noise" eine Rolle, wird aber heute nicht am Lido erscheinen, wie die US-Produktionsfirma erklärte. Wenigstens spielt der Wettbewerbsfilm "Tár" in Deutschland – mit Cate Blanchett als überehrgeiziger, erster Chefdirigentin eines deutschen Spitzenorchesters. Gemeint sind die Berliner Philharmoniker, die hier Berliner Symphonieorchester heißen und von der Dresdner Philharmonie gemimt werden. Und Nina Hoss, die hier in einer Nebenrolle spielt, soll auch auf dem Roten Teppich erscheinen.

Fünf Regisseurinnen sind dabei

Der oscar-gekrönte Mexikaner Alejandro Gonzáles Inàrritu ("Birdman", "The Revenant") kommt mit seinem neuen Film "Bardo" genauso wie Darren Aronofsky mit "The Whale". Aber um den Zeitgeist nicht zu verärgern, sind immerhin fünf Filme von Regisseurinnen im Rennen, und den Juryvorsitz zur Vergabe der Goldenen Löwen hat US-Star Julianne Moore inne.

Penélope Cruz als "Leonessa del Lido"

Bereits vor Beginn küren die Lokalzeitungen Penélope Cruz zur "Leonessa del Lido", nicht nur, weil sie zum zweiten Mal in Folge – nach Almodóvars "Parallele Mütter" wieder da ist – sondern auch, weil sie auf Italienisch in einem italienischen Film die Hauptrolle spielt: als Mutter in den 70er-Jahren, in "Immensità" von Emanuele Crialesi.

Oder gewinnt Marilyn Monroe?

Aber vielleicht könnte auch ein Star, der nie am Lido war, die Hauptrolle bei dieser Filmbiennale übernehmen und einen Golden Löwen gewinnen: Marilyn Monroe – deren Romanbiografie "Blond" hat der Neuseeländer Andrew Dominik verfilmt – mit Ana de Armas als Reinkarnation des größten Stars der Mitte des 20. Jahrhunderts: einer noch goldenen Epoche des Kinos.

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