"Fallen Leaves", "Club Zero" und mehr – Kritische Filme überzeugen beim Filmfest in Cannes

Die Filme von Aki Kaurismäki ("Fallen Leaves") und Jessica Hausner ("Club Zero") beim Filmfestival in Cannes zeigen kritische Blicke auf unsere Gesellschaft.
von  Adrian Prechtel
Jessica Hausner setzt in "Club Zero" eine Schulklasse auf Null-Diät.
Jessica Hausner setzt in "Club Zero" eine Schulklasse auf Null-Diät. © Cannes-Festival

Dass viele Fotos vom Roten Teppich gleich aussehen, liegt an einer strengen Choreografie und Ästhetik: im Smoking oder Abendkleid die halbe Treppe hoch, Fotografenstopp – nach links umdrehen lächeln, nach rechts umdrehen lächeln, weiter nach ganz oben, vor dem Portal Händeschütteln mit dem Festivaldirektor und der Präsidentin, umdrehen, nach unten Lächeln oder Winken, umdrehen und hinein in die Premiere ins Grand Theatre Lumière.

Mit dem widerständigen Clown, der selten lacht, dem Finnen Aki Kaurismäki, geht das nicht, er tanzt völlig aus der Reihe.

Der finnische Underdog auf dem roten Teppich in Cannes

Im offenen dunkelblauen Hemd zündet er sich am Fuß des Roten Teppichs erst einmal eine Zigarette an - und wird prompt von einem Sicherheitsassistenten zurück auf die Straße komplimentiert. Dass er die Kippe am Ende auf die Straße wirft, dürfte dem Law-and-Order-Bürgermeister von Cannes, David Lisnard, – immerhin mit überwältigenden 90 Prozent gewählt – nicht gefallen.

Der versucht eine Null-Toleranz-Politik. Die flankiert er sichtbar mit "Civisme"-Plakaten flankiert, die also zur "Bürgertugend" wie Mülltrennen und Aschenbecherbenutzen aufrufen: Die Strafe für die Kippe auf dem Bordstein beträgt 170 Euro! Kaurismäki würde das abfällig wegwinken.

Filmfest in Cannes: Alles, nur nicht nach Protokoll

Jetzt aber nimmt er zurück am Teppich dem TV-Team, das ihn filmt, erst einmal die Kamera ab und macht selbst den Gegenschuss auf die Fans am Straßeneck. Dann geht er aber wirklich mit seinen Hauptdarstellern nach oben. Aber anstatt zwischen den Fotografentreppen stehen zu bleiben, geht er in die Fotografenlinie hinein.

Und als er dann schließlich oben vom Festivaldirektor Fremaux begrüßt wird, stellt der sich belustigt vor Kaurismäki, um weitere unprotokollarische Fotos zu verhindern.

Nach all den Faxen endlich im Saal bricht frenetischer Vorschussapplaus aus: Kaurismäki – schon fünf Mal im Wettbewerb in Cannes gewesen und hier wieder mit seinem 30. Film: "Fallen Leaves".

Und wo Kaurismäki draufsteht, ist auch Kaurismäki zu sehen: Eine Supermarktangestellte wird wegen eines mitgenommen, abgelaufenen Sandwichs, das sie in den Abfall hätte werfen sollte, entlassen, ein Arbeiter in der Schrottverwertung wegen Trinkens.

In "Fallen Leaves" erzählt Aki Kaurismäki eine proletarische Liebesgeschichte.
In "Fallen Leaves" erzählt Aki Kaurismäki eine proletarische Liebesgeschichte. © Cannes-Festival

Die beiden lernen sich kennen, sie verlangt, dass er trocken wird. Kaurismäki erzählt mit antikapitalistischer Sympathie für die Underdogs und in durchstilisierten Bildern in 50er-Jahr-Farben eine proletarische Liebesgeschichte.

Dazu gibt es viele Filmklassikeranspielungen, wunderbar verstaubte Traumorte wie das Kino Ritz, den Pub California und das Buenos Aires Café sowie viel Tango und finnische Coverversionen von Dean-Martin- oder Carlos-Gardel-Songs. Der Film ist wunderbar langsam, lakonisch, altmodisch, auch vorhersehbar, aber einfach schön.

Eine feine Auswahl an kritischen Filmen in Cannes

Da ist der Film der Österreicherin Jessica Hausner schon aggressiver. "Club Zero" ist eine bis ins Sterile durchstilisierte, eiskalte Parabel, wie Manipulation, Esoterik, Sektentum, ja letztlich Fanatismus durch ein Gefühl Auserwähltseins – bei fast jedem? – funktionieren könnten.

Mia Wasikowska spielt hier eine "Ernährungslehrerin", die ihre Schülerinnen und Schüler im geheimen zum Nichtessen als Erlösung und totale Selbstfindung bringt - und dabei ganz im Zeitgeist auch Ökologie, Selbstkontrollerfahrung und Wokeness einbaut - in Form der Durchmoralisierung des Essens.

Der Film ist sanft in die Zukunft entrückt an einem privaten Elitegymnasium – mit der These, dass hier die emotionale Vernachlässigung von Kindern durch ihre Eltern stärker sind. Aber natürlich zeigt der Film mit dem Finger auf uns alle – aber mit einer irritierenden Kälte, so dass "Club Zero" wie ein Laborversuch wirkt. Und es ist eine Schwäche, dass bei allem Frösteln, der Zuschauer auch emotional kalt bleibt.

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