"Elvis" in Cannes: Sündteures Bilderbuch von Baz Luhrmann

Wieviel Geld eine Cannes-Premiere Filmproduzenten wert ist, zeigt sich auch am Werbe- und Partyaufwand an der Croisette - und der ist in den letzten zwanzig Jahren gesunken. 2001 verwandelten die 20th Century Fox - inzwischen geschluckt von Disney - noch die gesamte alte Hafengegend in ein Kulissen-Montmartre für Baz Luhrmanns "Moulin Rouge". Jetzt, 2022, lösten sein "Elvis" zwar immer noch die größten Emotionen und Star-Präsenz am Roten Teppich aus, aber Cannes ist deshalb nicht mehr wie verwandelt, obwohl sich Priscilla Presley, Shakira, Sharon Stone im Blitzlicht tummeln.
Der ganz junge Südstaaten-Elvis zuckt und kreist auf der Bühne
Baz Luhrmann hat einen 150-minütigen, gigantischen Unterhaltungsfilm gedreht. Aber schon die erste halbe Stunde ist ein Selbstzitat seines Stils in "Moulin Rouge", als er mit einem wirbelnden, mehrere Ebenen öffnenden, rasenden Bilderfeuerwerk das Publikum ums Denken und Atmen brachte. Heute, 21 Jahre später, ist das immer noch berauschend, aber nicht mehr neu: Der ganz junge Südstaaten-Elvis zuckt und kreist auf der Bühne, was überblendet wird in klassische ikonische 50er-Jahre Schriftzüge, auch eine Superhero-Marvelfigur wächst aus dem Bilderstrudel: eine frühe Identifikationsfigur des amerikanischen Traums für den Jungen Elvis, dessen Vater im Knast war, und der mit seiner Mutter in ein schwarzes Viertel ziehen musste - eine ästhetische Initialzündung zwischen BB-King-Blues und Gospel-Ekstase.
Und dann zirkuliert das Leinwandbild hinüber in das 45er-Kreiseln des Plattentellers, worauf sich die erste Single des späteren "King of Rock'n'Roll" dreht: "That's allright, Mama". Und es ist genau diese Frau, die Elvis auch über ihren frühen Tod 1958 hinaus begleiten wird und mit ihrem "That's allright, Gott hat Dir dieses Talent gegeben, also kann es nicht teuflisch sein", psychologisch den Weg frei macht für eine Karriere, die bis heute unübertroffen ist.
Baz Luhrmanns "Elvis": Der Film hat keinen Spannungsbogen
Baz Luhrmann erzählt in "Elvis" wirklich das gesamte Leben von Elvis Aaron Presley (1935 - 1977). Aufhänger ist Tom Hanks als sein Entdecker und Manager Tom Parker, der sich kurz vor seinem Tod in Armut und Spielsucht in Las Vegas als Erzähler zurückerinnert. Ein sehr gewöhnlicher dramaturgischer Kniff. Leider hat der Film keinen Spannungsbogen, sondern handelt das Leben von Elvis ab wie ein intensiv koloriertes Bilderbuch, das zu viel erzählen will und dann doch einiges nicht wirklich greifbar macht: Armut, Depressionen, Tablettensucht, Trennung von Priscilla, Verschwendungssucht, Stillosigkeiten.
Austin Butler bleibt als Elvis immer ein wunderbarer, intensiv und akrobatisch spielender Schönling. Der 50er-Jahre- bis 70er-Jahre-Body-Glitzeranzug bekommt keine Flecken. Das ist wunderschön anzuschauen, sehr zirzensisch, szenenweise auch ergreifend, aber als intelligentes Kunstwerk zu wenig - letztlich eine opulente Hommage - mit eingestreuter Politik und der Frage, ob Elvis - als Transporteur einer ursprünglich schwarzen Kultur - nicht vor allem auch ein Held der Überwindung der Rassentrennung war.
Gegen diesen 150-Millionen-Dollar-Film - in Cannes außer Konkurrenz - verblassen natürlich viele Wettbewerbsfilme und ihre Weltpremieren. Und so wirkt es, als ob "Elvis" eine dramaturgischer Glamour-Booster gegen Ende des 75. Festival in Cannes war.
Weitere Filme in Cannes
Denn der iranische Beitrag von Saeed Roustaee, "Leilas Brüder", über eine iranische Kleinbürgerfamilie am Rande des Prekären, war einfach zu lange erzählt und ein überreiztes familiäres Dauergeschrei. Wobei interessant ist, dass in einem offiziellen iranischen Film gezeigt werden darf, wie Familien zerfallen, Religion überhaupt keine Rolle spielt, eine Frau die letzte Tatkräftige und Mutige ist und in der brutalen Wirtschaftskrise alle ihre Moral verlieren, um an Geld zu kommen.
Die Französin Claire Denis wiederum hat mit "Stars at Noon" einen "traurige Tropen" Film gezeigt, in dem in Nicaragua eine hängengebliebene Amerikanerin ohne Pass sich durch Edel-Prostitution über Wasser hält. Sie verliebt sich in einen englischen Geschäftsmann, der allerdings ein Spion ist und von der CIA gejagt wird. Alles vor dem Hintergrund eines Landes, das einmal linker Hoffnungsträger war und zum totalitären Gefängnis geworden ist. Claire Denis Film ist sehr sexy, aber definitiv kein Meisterwerk der Französin.
Italien hat mit "Nostalgia" auch einen melancholischen Thriller nach Cannes geschickt. Mario Martone erzählt von einem Mann, der nach 40 Jahren nach Neapel zurückkehrt, nachdem er als 15 Jähriger abhauen musste, als ein Coup zusammen mit seinem besten Freund ein Todesopfer forderte. Die Frage ist, trägt eine Jugendfreundschaft über Jahrzehnte, auch wenn der Zurückgebliebene mittlerweile ein grausamer Pate der Camorra ist?
So blieb es an den Cannes- und Sozialfilm-Veteranen Jean-Pierre und Luc Dardennes aus Belgien, eine wirklich aktuelle Geschichte zu erzählen - über eine junge Frau aus Afrika, die, um ihren illegalen Aufenthalt in Westeuropa zu retten, in eine immer gefährlichere Situation gerät und dabei auch noch ihren kleineren Bruder schützen und weiterbringen will.
Die klare Ansage des bewegenden Films: Gebt ihnen Papiere, sonst schicken wir diese Menschen zwangsweise in Elend und Kriminalität. So war "Tori und Lokita" der bisher explizit gesellschaftspolitischste Beitrag im gesamten Wettbewerb - schnörkellos und bewegend erzählt. Aber Cannes hat noch fünf weitere Wettbewerbsfilme, um weiterhin das große, gesamte Spektrum des Kinos zu zeigen.