"Ein Festtag": Gefangen im Klassenkäfig
Graham Swift ist der literarische Porträtist der englischen Gesellschaft und schaut dafür auch zurück - wie in seinem Roman "Ein Festtag" (2015), der mit seinen vielen Zeitebenen elegant, aber auch komplex ist. Ihn als Filmvorlage zu nehmen, ist also ganz schön mutig. Aber die französische Regisseurin Eva Hussson geht das Projekt überzeugend an und erzählt ausgehend vom Jahr 1924, wo alles gerade noch seine scheinbare Ordnung hat: Die Gesellschaft ist säuberlich aufgeteilt in ein Klassensystem mit ungeschriebenen Regeln. Dazu gehörte auch das Heiraten innerhalb des eigenen Standes.
Das weiß auch die hübsche und kluge Jane (die australische Newcomerin Odessa Young). Sie hat - wie die meisten Dienstboten - am Muttertag frei und nutzt die Gelegenheit, Paul (Josh O'Connor) zu besuchen, während dessen Eltern sich mit den hochgestellten Nivens und seiner Verlobten zum Picknick versammeln.
Ein Schicksalsschlag wirbelt alles durcheinander
Sie hat also eine Liebesromanze mit einem Spross aus bester Familie, der demnächst seine Kindheitsfreundin aus gutem Hause ehelichen und Kinder in die Welt setzen wird und eine Karriere als Anwalt machen wird. Aber sie genießen Stunden voller Liebe und Leidenschaft auf dem Landsitz, bis der Geliebte mit seinem Sportwagen zur Lunchgesellschaft und Braut hinterherbraust. Ein tragischer Schicksalsschlag wirbelt dann aber aller Leben durcheinander.
Das Drama laviert geschickt durch elliptische Zeitsprünge und fordert dabei Aufmerksamkeit ein. Wer sich darauf einlässt, wird mit einer opulent inszenierten und stilistisch ambitionierten, vor allem emotionsgeladenen Geschichte über Liebe, Verlust und Neubeginn belohnt. Da tauscht die feine Freundesrunde Floskeln aus und schweigt über das, was sie wirklich bewegt: Tod und Trauer. Denn der Erste Weltkrieg hat Wunden gerissen, einigen Familien die Söhne genommen.
Nur manchmal bricht der Schmerz aus ihnen heraus, ansonsten klammern sie sich an Konventionen und Rituale, verplempern ihre Zeit mit plätschernden Gesprächen bei Lunch und Dinner. Auch wenn die Fassade bröckelt, heißt es britisch "stiff upper lip": immer Haltung bewahren. Wunderbar sind Colin Firth und Olivia Colman als die Nivens, die den Verlust ihrer beiden Söhne nicht verwinden können und in Sprachlosigkeit verharren. Wie aus einer fernen Zeit wirken die Rückblenden von unbeschwerten Familienausflügen in der Vorkriegszeit.
"Ein Festtag": Es passiert wenig und doch unheimlich viel
Am spannendsten ist die Entwicklung des jungen Dienstmädchens. Auch wenn Josh palavert, vielleicht irgendwann mal mit ihr Champagner und Austern zu schlürfen, weiß sie, dass sie ihr Leben in die eigene Hand nehmen muss. So ergreift sie die Chance und schafft als Bibliotheksgehilfin den Absprung, freut sich über eine geschenkte Schreibmaschine und reüssiert als Schriftstellerin, die in der prüden Epoche mit einem schwarzen Philosophen glücklich wird. Noch als 90-jährige preisgekrönte Autorin Jane Fairchild (eine fiktive Figur), lassen sie die Ereignisse dieses denkwürdigen Muttertags nicht los und sie registriert, wie sehr er ihren Werdegang und ihr Werk geprägt hat.
Die exquisite Kombination von Intelligenz und weiblicher Sinnlichkeit, delikater Dekadenz und wildem Aus- und Aufbruch, Traurigkeit und Lebenshunger machen Lust, dieser kämpferischen und kreativen Frau bei ihrem leisen Befreiungsschlag zuzuschauen. Es passiert wenig und doch unheimlich viel. Ein Festtag fürs Kino.
"Ein Festtag" in den Kinos ABC, City sowie Monopol (OmU) und Museum (OV), Regie: Eva Hussson (GB, 105, Min.)
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