Die Freiheit des Sehens

Endlose Einstellungen und ein Minimum an Information: "Der traumhafte Weg" ist eine Herausforderung für sein Publikum.
Claudia Nitsche |
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Kenneth (Thorbjörn Björnsson) braucht Theres (Miriam Jakob), doch sie werden getrennte Wege gehen.
2016 Piffl Medien Kenneth (Thorbjörn Björnsson) braucht Theres (Miriam Jakob), doch sie werden getrennte Wege gehen.
Er hilft ihr am Hang, reicht ihr die Hand. Kenneth (Thorbjörn Björnsson) hat in der einen Hand seine Gitarre, an der anderen seine Freundin Theres (Miriam Jakob). Das ist ein passendes Bild für die zwei Dinge, die im Leben des Engländers eine Rolle spielen. Er ist Straßenmusiker in Griechenland, lebt mit seiner deutschen Freundin von der Hand in den Mund. Wir schreiben die 80er-Jahre. Die Bilder zu Beginn von "Der traumhafte Weg" sind klar und von anmutiger Schönheit. Das verträumte Paar strahlt Frieden aus, ihre Umgebung wird lebendig, man spürt den Wind, das Land, sogar den Himmel. Doch so klar deutbar sind die wenigsten Szenen in Angela Schanelecs Film
. Schanelec ist eine Vertreterin der Berliner Schule. Das heißt: lange Bildeinstellungen, reduzierte Ausstattung und wenige Worte. Das kann durchaus zu großartigen Kinoerlebnissen führen, wenn man eine starke Geschichte zu erzählen hat und bewusst auf all die bunten Smarties verzichtet, die im Kino viel Platz finden. Im Prinzip passiert dies auch hier. Attraktive, oft unbewegte Bilder in langen Einstellungen lassen die Schauspieler wie in einer Theaterinszenierung auftreten. Man hat Zeit, sich während ihres Schweigens ihre Gesichter, ihre Erscheinung anzuschauen, um sie zu begreifen. Rothaarig ist Kenneth, trägt eine Strickjacke
und hat schmutzige Fingernägel. Eines Nachmittags ruft er zu Hause an und erfährt, dass seine Mutter verunglückt ist. Kenneth erleidet einen Schwächeanfall. Schnitt. Offenbar hat der Film das Land gewechselt. Wir befinden uns in Berlin. Das Paar spricht über die Jacke, die Theres trägt, nicht etwa über den Zustand der Mutter
oder wie es weitergeht. Der erste Dialog läuft ins Leere, bis sie in der Wohnung ihrer Mutter ankommen. Warum der Rückflug nach Deutschland ging und nicht nach England, wo die Mutter von Kenneth im Sterben liegt, bleibt unklar. Das ist das Credo der Regisseurin
: Sie gibt lose Anhaltspunkte und lässt viel Raum für eigene Überlegungen. Theres scheint mit der bevorstehenden Trennung rational umzugehen, teilt mit, dass sie Lehramt studieren will. Kenneth wird berühmt, und sie kann in der Zeitung
lesen, wo er gerade ist. Weniger ist mehr, im Kino sollte nicht jede Emotion ausdiskutiert und alles Gedankengut vorgekaut werden. Doch gekoppelt mit einer Bilderwelt, die auch derart reduziert ist wie bei "Der traumhafte Weg", wird der Zuschauer herausgefordert, insbesondere der, der gerne Warum-Fragen stellt. Denn keine wird beantwortet. Wer sich diesen Film ansieht, ist auf sich gestellt, auf seine Fantasie und den Film, den diese aus den Fragmenten zusammensetzt. Die Vertreterin der Berliner Schule erlebte bei der Uraufführung im Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno gespaltene Reaktionen. Freilich ist erlaubt, alles in diesen Film hineinzuinterpretieren. Von der Zerbrechlichkeit der Liebe, der Unfähigkeit, sich auszudrücken, oder einem ganz allgemeinen Scheitern im Leben. Warum aber gibt es nicht mehr Szenen wie die zwischen Kenneth und seinem Vater, in der in wenigen Worten viel gesagt wird. Präzise erkennt man den Charakter der beiden, ihre Beziehung zueinander sowie ihr weiteres Vorhaben. Es ist natürlich die Entscheidung der Regisseurin, sich auf ihre - manchmal flach - atmenden Bilder zu verlassen. Künstlerisch ist das Projekt ansprechend, inhaltlich ist manche Verzweiflung im Kinosaal vorprogrammiert. Da wird in Echtzeit jeder Waldweg zu Ende gegangen und am Moos gelauscht, aber keiner sagt einem, wie der letzte Break der Geschichte zu erklären ist. Richtig, muss man sich ja selber ausdenken. Auch wenn Angela Schanelec ihre Figuren erkennbar mag, vertraut sie ihnen und sich als Regisseurin nicht ganz. Ihr fehlt der Mut, ihre Geschichte zu erzählen. Aber dafür macht man doch Filme, oder?
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