Die etwas anderen Oscars: Noch kein Phönixflug

Bei allen - mehr oder weniger originellen - Überraschungseinfällen einer Oscargala, gibt es Regeln, auf die man meint, sich verlassen zu können, wie: Am Ende kommt die Königskategorie "Bester Film"!
Steven Soderbergh war bei der 93. Oscar-Verleihung nicht Regisseur eines nominierten Films, sondern der Gala selbst. Und die sollte nach Jahren des Drucks auf das weiße, männliche Film-Establishment vor allem farbiger, weiblicher, also diverser werden.
Um 5 Uhr morgens dann eine interessante Fehlkalkulation
Dazu hatte sich Soderbergh nicht nur einfallen lassen, den Ort zu diversifizieren: vom engen, kompakten Dolby-Theatre an mehrere, luftigere Orte wie den Bahnhof Union Station. Außerdem wurden zahlreiche Nominierte aus Ländern wie Australien, Großbritannien, Italien und Frankreich zugeschaltet.
Aber dann kam um 5 Uhr morgens unserer mitteleuropäischen Zeit eine dramaturgische Überraschung dazu. Es fehlten noch die beiden "Beste-Schauspiel"-Kategorien, als schon der "Beste Film" bekannt gegeben wurde: "Nomadland". Was wiederum bei 230 Preisen seit der Premiere bei den Filmfestspielen in Venedig im September - wie "Der Spiegel" gezählt hat - auch so zu erwarten war.
"Nomadland" räumt bei der 93. Oscar-Verleihung ab
Mit der erst 39-jährigen Chloé Zhao, die zuvor bereits den Regie-Oscar bekommen hatte, ging in der Verleihungsgeschichte erst der zweite Oscar für den besten Film an eine Regisseurin.
Der dritte Oscar für "Nomadland" war dann der folgende: an Frances McDormand für ihre Rolle als Witwe, die ihr Zuhause verliert, ihre Habseligkeiten in ein Auto packt und als Nomadin und Hilfsarbeiterin durch die USA zieht. Dabei trifft sie Menschen, die ebenfalls in ihren Autos leben und die auch im Film von realen Nomaden gespielt werden.
Chloé Zhao: Wie eine Botschaft an das sozial vergessene Amerika
Zwei dieser Nomadinnen hatten Zhao und McDormand zur Verleihung mitgenommen, und Chloé Zhao hatte unter Tränen auch diesen Menschen für die Begegnung mit ihnen gedankt: "Diese Menschen haben mir die Kraft der Belastbarkeit und Hoffnung beigebracht. Vielen Dank, dass ihr uns daran erinnert habt, wie wahre Güte aussieht."
Es war eine Botschaft an das sozial vergessene Amerika. Und ein weiterer, bleibender Eindruck der Oscarverleihung 2021 wird das Wolfsgeheul sein, das Frances McDormand danach in der Union Station angestimmt hat, als Gruß an einen gestorbenen Toningenieur von "Nomadland". Was zusammen ein schöner Abschluss der Gala gewesen wäre.
Kein posthumer Oscar für Chadwick Boseman
Aber Soderbergh schien auf etwas anderes gewettet zu haben. Denn als letzte Kategorie hatte er den "Besten Schauspieler" gesetzt: Wenn schon mehr People of Color geehrt werden sollten, dann wäre es doch sinnvoll, diesen Oscar ans Ende zu setzen. Denn da hatten alle auf "Black Panther"-Star Chadwick Boseman gedacht.
Der war mit nur 43 Jahren im vergangenen Jahr an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. So wollte Soderbergh ihm - am Ende der Show - noch ein Denkmal setzen: mit einem posthumen Oscar für "Ma Rainey's Black Bottom". Die großen Emotionen, die es bei Bosemans ebenfalls postumen Sieg bei den Golden Globes gegeben hatte, hätten hier noch einmal einen Raum bekommen.
Anthony Hopkins: Nach 29 Jahren noch ein zweiter Oscar
Aber es kam anders. Die 9.000 Mitglieder der Film-Academy hatten dafür gestimmt, diesen Oscar dem somit ältesten Gewinner der Oscargeschichte zu verleihen: dem 83-jährigen Briten Anthony Hopkins für "The Father", in dem er einen dementen Vater spielt. Hopkins aber war Corona-bedingt nicht aus Wales angereist und angeblich noch im morgendlichen Tiefschlaf, als er seinen zweiten Oscar erhielt - 29 Jahre nach "Das Schweigen der Lämmer".
Aber natürlich waren den Abend über nicht in politisch korrekten Zeiten angezählte "alte weiße Männer" mit Oscars bedacht worden. So bekam die Südkoreanerin Yuh-Jung Youn für das Immigranten-Familiendrama "Minari - Wo wir Wurzeln schlagen" und der schwarze Brite Daniel Kaluuya mit seiner Rolle in "Judas and the Black Messiah" über die Ermordung eines schwarzen Bürgerrechtlers die Trophäen für die besten Nebenrollen. Zwei weitere Oscars (Make-up/Frisur sowie Kostümdesign) gab es für das Musikdrama "Ma Rainey's Black Bottom" über die knallharte schwarze Manager-Mutter des Blues.
Oscars 2021: Und dann war da noch die spontane Glenn Close
Dennoch blieben die Oscars hinter der Erwartung, richtig schwarz und divers zu werden, ein Stück zurück. Und so haben die Oscars vielleicht schon jetzt eine gewisse Balance gefunden, ohne zuvor - nach Jahrzehnten weißer, männlicher Dominanz - in vorauseilendem Zeitgeist-Gehorsam erst einmal ins Gegenteil zu kippen.
Wer die Nacht über am Bildschirm blieb, konnte erleben, wie die verschiedenen Standorte der Show geschickt nahtlos aneinander montiert worden waren, so dass man durchaus vergessen konnte, dass die Bilder nicht aus einem einzigen Veranstaltungsort stammten. Allerdings gab es praktisch keine Showeinlagen, die die Gala auflockerten - bis auf eine spontane von Glenn Close. Denn die 74-Jährige sprang für eine Tanzeinlage von ihrem Platz auf und ließ zum Rhythmus des eingespielten Songs "Da Butt - Der Popo" ihren Hintern kreisen. Aber auch alle nominierten Songs waren nicht live aufgeführt und eingestreut worden, sondern waren in einer Sondershow am Tag zuvor ausgekoppelt worden.
Statt Auferstehungsfeier vor allem nur eine Preisverleihung
All das führte dazu, dass die 93. Oscarverleihung vor allem eins war: eine Preisverleihung. Wer also - trotz oder gerade wegen Corona - auf eine pompöse Show gehofft hatte, um Hollywood und die gebeutelte Filmindustrie als Phönix zu feiern, wurde enttäuscht. Viele der Oscarfilme haben durch die Corona-Pandemie bisher den Weg ins Kino noch nicht geschafft oder wurden gleich auf Streamingsplattformen gezeigt wie der als Bester Animationsfilm ausgezeichnete "Soul" von Pete Docter und Dana Murray.
Der Abräumer "Nomadland" aber soll noch diesen Sommer in den deutschen Kinos starten, wie auch der als Bester Internationaler Film ausgezeichnete "Der Rausch" des Dänen Thomas Vinterberg mit Mads Mikkelsen als Lehrer, der mit Kollegen ein Daueralkoholisierungsexperiment durchführt.
Chloé Zhao: Von wegen "Chinas Stolz"
Ob China, das die großen Pandemiewellen schon hinter sich hat, "Nomadland" ins Kino bringen wird? Schließlich ist Chloé Zhao eine gebürtige Chinesin. Aber wichtige Staatsmedien berichteten am Montag zunächst überhaupt nicht über die Verleihung der Oscars an Zhao. In sozialen Netzwerken wurden Beiträge zum Thema teilweise gelöscht.
Noch Anfang März hatte die chinesische Zeitung "Global Times" Zhao als "Chinas Stolz" gefeiert, nachdem sie bereits bei den Golden Globes ausgezeichnet worden war. Dann tauchte jedoch ein Interview mit Zhao im Internet auf, in dem sie die Volksrepublik als "Ort der Lügen" kritisiert hatte. Werbematerial und Verweise auf "Nomadland" wurden daraufhin in den vergangenen Tagen im chinesischen Internet gelöscht.