Die AZ-Kritik zum neuen Kinofilm "Manchester by the sea" mit Casey Affleck

Eine ungewöhnliche Erzählstruktur, die sich auszahlt.
Adrian Prechtel |
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Der verschlossene Einzelgänger Lee (Casey Affleck) soll sich um seinen Neffen Patrick (Lucas Hedges) kümmern.
Universal Pictures / Courtesy of Amazon Studios / Claire Folger Der verschlossene Einzelgänger Lee (Casey Affleck) soll sich um seinen Neffen Patrick (Lucas Hedges) kümmern.

Dieser Film ist das höchstmögliche Risiko eingegangen und hat so alles erreicht, was ein Film leisten kann. Das beginnt schon mit der ungewöhnlichen Erzählstruktur. Wir sehen Lee, den wortkargen Hausmeister in einem Mehrfamilienhaus am Rande von Boston, wo er in seiner kargen Souterrain-Wohnung ohne Kontakte lebt.

Man mag ihn, aber er ist auch ein wenig unheimlich in seiner In-sich-Verknäultheit. Etwas später wird er abends nach einigen Bieren in einer Bar aus dem Nichts explodieren und einen Gast verprügeln. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht: einerseits so autonom, stoisch, dann wieder eine innere Bombe.

Interview mit Casey Affleck: "Manchester by the Sea" - Filmfiguren wie echte Menschen

Kurz darauf sehen wir Lee in der nahen Kleinstadt „Manchester by the Sea“ mit einem Mann und dessen Sohn aufs Meer hinausfahren. Erst später begreifen wir, dass das einerseits spürbar angespannte, gleichzeitig liebenswürdige Verhältnis der drei ein familiäres ist – mit dominantem Bruder (Kyle Chandler) und nettem Teenie-Neffen (Lucas Hedges).

Und langsam erschließt sich eine vorangegangene Tragödie, die mit einer Ehekrise begann: mit einer entnervten Frau (Michelle Williams), netten Töchtern und einem Mann, der seine Familie liebt, in der Arbeit aber nicht viel zustande bringt. Und der den Kamin im Hobbyraum einheizt, als er mit seinen Kumpels feiert, und eine Katastrophe auslöst.

Situationen und Begegnungen lösen Erinnerungen und neue Verarbeitungsschübe aus

Bei seiner faszinierenden filmischen Familienaufstellung findet Regisseur Kenneth Lonergan einen fantastischen, riskant ruhigen Rhythmus, der nicht nach immer neuen, sich steigernden Höhepunkten sucht, sondern einer lebensechten Psychologie folgt: Situationen und Begegnungen lösen Erinnerungen und neue Verarbeitungsschübe aus – wenn man ungeahnt der ExFrau wieder begegnet, zu einer Beerdigung muss und innerlich das Verhältnis mit dem Gestorbenen überdenkt.

Das alles wird so natürlich und echt erzählt, dass man auch ohne chronologische Erzählweise nie den Überblick verliert. In all den psychologischen Fragen bleibt man den ganzen Film hindurch gebannt neugierig, während sich der ganze Familienkosmos entfaltet – aus Fehlern, Ungerechtigkeiten, Missverständnissen, aber eben auch großer Liebe und Verantwortung.

Gleichzeitig erlebt man die ständige Unsicherheit und Befangenheit aller allen gegenüber – und in der Mitte einen Mann, der in Schuldgefühlen erstickt, ohne diese nach außen tragen zu können.

Casey Affleck spielt Lee derart vielschichtig hinter einer abwehrenden Fassade, dass sich hier ein Oscar aufdrängt. Ursprünglich sollte diesen Lee Matt Damon spielen, der den Film als Herzensangelegenheit auch mitproduzierte. Aber Damon hatte zu viele andere Verpflichtungen, die Umbesetzung wurde zum Glücksfall.

„Manchester by the Sea“ bietet uns keine klassischen Identifikationsfiguren an, sondern gewinnt uns für seine Figuren durch tiefes Verständnis, weil sie so echt, kompliziert, verletzt und verletzend, dann aber auch wieder liebenswürdig und hilfsbereit sind. Das wiederum gibt diesem Drama, das von Lesley Barber dezent und passend mit einer requiemartigen Orgelmusik mit Orchester umspielt wird, sogar eine gewisse Leichtigkeit.


R: Kenneth Lonergan (USA 2016, 138 Min)

Kinos: Atelier, Kinos Münchner Freiheit, Monopol, Museum-Lichtspiele

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