Der Wutbürger in uns
„Wild Tales – Jeder dreht mal durch“: eine argentinische Radikalsatire über Aggressionen hinter unserer Bürgerlichkeit von Damián Szifron
Sind wir nicht alle heimlich „Wutbürger“, die nur durch Bürohierarchie, Familienstruktur, Ampeln, Polizei und Nachbarn zu einigermaßen zivilisierten Verhalten gezwungen werden? Was aber, wenn das Fass überläuft?
Es ist der furiose Witz des argentinischen Filmes „Wild Tales“, dass er Slapstick und Amoklauf nicht in ferne Welten verlagert, sondern in Situationen, die jeder kennt. Und so stellt sich auch die Frage: Bin ich vielleicht auch eine tickende Zeitbombe in der Zwangsjacke des bürgerlichen Funktionierens? So wie der lässige Typ in seiner Blechkiste, der von einem SUV-Großkotz gedrängelt und mit Lichthupe traktiert und riskant überholt wird, nach dem demütigenden Motto: „Hoppla, jetzt komm’ ich, Du armer Wicht!"
Bizarre Eskalation aus der Alltagssituation
Pech nur, dass der PS-Zampano einige Kilometer weiter eine Panne hat, just der Gedemütigte hinterher kommt und jetzt seine ganze Wut auf sein Scheißleben und die arrogant Geldigen an dem Business-Schnösel auslässt: eine tödliche Testosteron-Entladung, eine bizarre Eskalation aus der Alltagssituation.
„Wild Tales“ sind radikal-satirische Episoden von Regisseurs Damián Szifron aus einem Land in moralischer Auflösung – hier Argentinien, aber von unserer Wirklichkeit so weit nicht entfernt: Reiche, die ihren Gärtner für viel Geld überreden, statt ihres Sohnes unschuldig eine Schuld auf sich zu nehmen und dafür ins Gefängnis zu gehen, eine arrangierte Oberschichtshochzeit, auf der schon die Untreue des Ehemanns auffliegt oder ein Mittelklasse-Don-Quijote und netter Familienvater, der im Kampf gegen Strafzettel- und Abschlepp-Bürokratie Terrorfantasien entwickelt.
Großer Amusement-Faktor und gefundenes Fressen für Intellektuelle
In Argentinien ist „Wild Tales“ der meist besuchte Film seit Einführung der Besucherstatistik. Das ist nicht nur mit dem großen Amüsement-Faktor zu erklären, dem Kitzel, der Lebensnähe oder dem Stellvertreter-Spaß, dass hier jeder mal so durchdrehen darf, wie man es innerlich selbst gerne mal tun würde.
Auch Intellektuelle können sich hier beim Sau-Rauslassen wohlfühlen. Denn es lassen sich ästhetische Aspekte herausfiltern wie die stilistischen Anleihen bei Feuilleton-Lieblingen wie den Coen-Brüdern mit ihrem schwarzen Radikal-Humor, Quentin Tarantinos Splatter-Ironie oder die grelle Figurenzeichnung Almodóvars. Letzterer hat „Wild Tales“ auch mitproduziert. Und auch als Gesellschaftsanalyse einer Leistungs- und Erniedrigungsgesellschaft ohne Ventile taugt dieser wilde Filmcocktail wunderbar.
Kino: City, Leopold, Monopol sowie Isabella und Atelier (OmU)
B&R: D. Szifron(E, Arg, 120 Min.)