"Der Schneeleopard": Männer, die auf Yaks starren
Nein, eine große Hilfe auf dieser Expedition in Tibet ist der französische Schriftsteller Sylvain Tesson nicht. Während das kleine Team um die Dokumentarfilmerin Marie Amiguet und ihren Lebensgefährten, den Naturfotografen Vincent Munier, fast 40 Kilogramm schwere Rucksäcke auf über 5000 Meter Höhe wuchtet, trägt Tesson kaum mehr als sein Notizbuch - und schwer an seinen Gedanken. Darin liegt allerdings auch der große Reiz diesen Naturfilms.
Und zu Tessons Entschuldigung sei gesagt: Ein Sturz - betrunken vom Hausdach - hatte ihn 2012 fast zum Krüppel gemacht. "Ich war auf acht Metern fünfzig Jahre gealtert", schrieb er lakonisch in seinem Buch "Auf versunkenen Wegen", das ihn eintausend Kilometer vom Mittelmeer wandernd zum Atlantik führte, fest verschraubt, mit lädiertem Auge, halbtaub und mit schiefem Gesicht. Seine Form der Reha und Rache an den Ärzten, die ihn fast aufgegeben hatten.
Tiere zu filmen, heißt auf Tiere zu warten
Schon in diesem Buch beklagte er die Zerstörung der Wildnis durch die "Zivilisation". Im "Schneeleopard" weitet er seine Gedanken über die Entfremdung des Menschen von der Natur weiter aus. Denn er hat Zeit, viel Zeit. Tiere zu filmen, heißt auf Tiere zu warten: "Die Lauer war ein Gebet. In der Betrachtung der Tiere glichen wir den Mystikern: Wir verneigten uns vor der Urerinnerung," schreibt Tesson.
Es wird lange, sehr lange dauern, bis das Team - und der Kinozuschauer - den Leoparden wirklich vor die Linse bekommt. Dazwischen machen wir Bekanntschaft mit Tesson, Munier und ihren Ferngläsern: Männer, die auf Yaks starren, oder Blauschafe, Wölfe, Füchse, Esel und Hasen.
Der Schneeleopard lockte 600.000 Franzosen in die Kinos
Das allein wäre in der kargen, tiefgekühlten Winterschönheit Tibets vielleicht nicht abendfüllend und erst Recht kein Grund, warum die preisgekrönte Doku über 600.000 Franzosen in die Kinos lockte.
Aber die Verbindung der Bilder mit Warren Ellis' Musik (und ein bisschen Gesang von Nick Cave) und Tessons pathetischem Kommentar, macht "Der Schneeleopard" zu einer herausragenden Meditation über die Natur und das menschliche Missverhältnis zu ihr. Yaks etwa sind bei bei Tesson "Totems aus fernen Zeiten", mit einem Kontakt zu Urzeit, den wir längst verloren haben.
Eine Begegnung als religiöse Erscheinung
Im Begleitbuch "Der Schneeleopard" beschreibt Tesson die erste Begegnung mit dem Tier der Sehnsucht als eine religiöse Erscheinung: "Er hob witternd den Kopf. Er trug das Wappen der tibetischen Landschaft. Sein Fell, Intarsien aus Gold und Bronze, gehörte dem Tag, der Nacht, dem Himmel und der Erde."
Man mag diesen hohen Ton auf Dauer anstrengend finden, aber er ist Konzept: Munier und Tesson nähern sich der Tierwelt nicht mit wissenschaftlichem Erklärungsfuror, sondern mit poetischer Verneigung. Es geht nicht um die "Erforschung" der Welt, sondern um ihre Verzauberung, wie sie Tesson in seinem "Glaubensbekenntnis" mit steifgefrorenen Fingern bei Höchsttemperaturen von minus 15 Grad in sein Notizbuch notiert: "Verehren, was wir vor Augen haben. Nichts erwarten. Sich ausgiebig erinnern. Hoffnung bewahren, Rauch über den Ruinen. Genießen, was sich darbietet. Nach den Symbolen suchen und die Poesie für stärker halten als den Glauben. Sich mit der Welt begnügen. Dafür kämpfen, dass sie bleibt."
Kinos: City Atelier (auch OmU), Monopol, Theatiner (OmU), R: Marie Amiguet (F, 92 Minuten)
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