"Das unbekannte Mädchen": Die Geschichten des Alltags

Es kommt darauf an, was man von Cannes erwartet, aber genau in der etwas ruhigeren Endphase kommt das Kino zum Zug, das abseits von Glamour und Stars oft die interessanteren Geschichten erzählt. Drei waren es jetzt, und es ist eine große Stärke des 69. Festivals, Filme gefunden zu haben, die zweierlei können: im unterhaltenden Sinne spannend sein und dabei auch eine wichtige, uns Zuschauer befragende Geschichte erzählen.
„Aquarius“ von Kleber Mendonca Filho zum Beispiel erzählt die Geschichte einer Entmietung eines gutbürgerlichen Appartmenthauses am Strand von Recife, einer Stadt, wo Brasilien am weitesten in den Atlantik ragt. Eine 65-jährige Witwe wehrt sich, lässt sich von Angeboten, ihre Wohnung zu verkaufen, als einzige nicht ködern, obwohl schon hohe Angebote vorliegen.
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Aber in diesen Kampf ist alles eingebaut: Krankheit und Überlebenswille, denn die linksintellektuelle Ex-Musikkritikerin Clara hatte Brustkrebs. Kleber Mendonca Filho fängt in seinem Film nicht nur die sozialen Gegensätze des Landes ein, auch die Arroganz der Oberschicht und die Vergangenheitsvergessenheit einer Gesellschaft, die als Staatsmotto „Ordem e Progresso – Ordnung und Fortschritt“ hat.
Den größtmöglichen Gegensatz zu diesem Wahlspruch zeigt Brillante Mendoza, der vor Jahren mit härtesten Gewaltszenen eines Foltermordes an einer Prostituierte in „Kinatay“ das Kritikerpublikum in Cannes aus dem Pressesaal getrieben hatte. Jetzt ist er mit „Ma’ Rosa“ viel milder und besser: Ein Familienkiosk hält sich auch mit kleinen Drogendeals über Wasser, bis der Laden der resoluten Alltagsheldin Rosa verpfiffen wird.
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Und man bekommt Einblick in die völlig willkürliche und korrupte, manchmal auch gewalttätige Polizeiwelt in Manila. Aber Mendoza setzt hier die Familien- und Nachbarschaftssolidarität dagegen, ohne jemals das Leben im Armenviertel zu romantisieren.
Der Publikumsliebling kommt aus Belgien
Am besten kamen beim Publikum allerdings mal wieder die belgischen Regiebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne an, weil sie – anstatt nur extrem bewegende Sozialgeschichten im Prekariatsmilieu zu erzählen – diesmal einen echten Krimi aufbauen: Eine junge Ärztin verbietet ihrem Medizin-Praktikanten am Abend auf den Türöffner der Praxis zu drücken: „Das hat kurz Zeit, ich rede mit dir!“ Aber die sehr junge schwarze Frau vor der Tür wird nicht noch einmal klingeln, sie wird am Morgen tot aufgefunden. Sie hatte panisch um Hilfe geklingelt.
Aus dieser Ausgangslage der Schuldgefühle der jungen, idealistischen Ärztin entwickelt „Das unbekannte Mädchen“ eine psychosoziale Studie über das ärmere Milieu, Zuhälterei, das hier funktionierende soziale System, aber auch über Schuld und Sühne. So hat Cannes auch sein großes Herz gezeigt und: Filme, die genau und wahrhaftig hinschauen, auch dahin, wo es nicht mehr nur nett ist, können eine echte Erweiterung unserer Lebenseinsichten schaffen, völlig ohne dröge zu sein. Ein Triumph des Cinéma vérité, wie man in Frankreich sagt.