"Da läuft was aus dem Ruder": Doris Dörrie im AZ-Interview

Doris Dörrie zählt zu den erfolgreichsten Regisseurinnen, prägt das deutsche Filmschaffen mit über 40 Kino- und TV-Filmen seit den 1980er Jahren. Die Wahlmünchnerin, renommierte Filmemacherin und gefeierte Buchautorin zeigt weder Scheu vor populären Unterhaltungs- noch vor kniffligen Arthouse-Filmen. Existenzielle Themen interessieren sie, die Mischung von komischen und tragischen Alltagsgeschichten. Wie in der Culture-Clash-Komödie im für Frauen reservierten "Freibad", wo sie mit Witz fragt, ob wir so tolerant sind, wie wir glauben und genüsslich mit unseren Vorurteilen spielt.
AZ: Frau Dörrie, hat das Freibad seine Unschuld verloren? Früher war es Teil der sommerlichen Jugendkultur, heute macht es durch Schlägereien, sexuelle Belästigungen und Saufereien von sich reden.
DORIS DÖRRIE: In einer gewissen Weise haben wir alle unsere Unschuld verloren, weil wir sehr viel ruppiger und extremer miteinander umgehen. Und das spiegelt sich im Freibad wieder. Deshalb wollte ich auch den Film machen. Das Freibad ist ein exemplarischer Ort, an dem Demokratie geübt wird. Und das können wir derzeit anscheinend nicht so gut. Da sieht man wie unter einem Brennglas all das, was sonst auch aus dem Ruder läuft. Der Umgang miteinander, die immer extremeren Positionen, die Aggressionen. Die Frauen versuchen, gemeinsam einen Weg zu finden und Regeln neu auszuhandeln. Das ist schwierig und kompliziert. Demokratie ist ein schwieriger Prozess.

Was sind Ihre schönsten Erinnerungen ans Freibad?
So schön war es dann doch nicht. Als Kind habe ich das Freibad geliebt, da stand man im Babyecken herum und lag den ganzen Tag auf der Wiese. Als Teenager änderte sich die Naivität. Da merkte man plötzlich diesen anderen sehr körperlichen orientierten Blick. Nicht nur der von Jungs und Männern, sondern auch der Blick von Frauen. Da hat plötzlich diese endlose Bewertung eingesetzt und die haben wir alle internalisiert, das spult sich in unseren Köpfen ab wie eine Endlosschleife. Diesen Prozess zu durchbrechen ist nicht einfach.
Hatten Sie ein besonders negatives Erlebnis?
Ich war ein Spargel und dann kam plötzlich ein Junge und sagte, du hast eine ganz schöne Babywampe. Das habe ich bis heute nicht vergessen, zumal ich definitiv keine hatte. Aber diese Bewertung wird man nicht mehr los. Und die gibt man auch weiter. Wir Frauen bewerten uns ja auch heftig untereinander.
Kaum taucht der Bademeister im Film auf, ist er der Hahn im Korb, schwänzeln die Weiber um ihn herum, läuft das alte Programm ab: Bauch rein, Brust raus. Wo bleibt da die Emanzipation?
Ich versuche, unsere Ambivalenz zu schildern. Die empfinde ich nicht nur als realistisch, sondern auch als komisch. Erst große Töne schwingen und kaum taucht ein toller Typ auf, verhalten wir uns wie anno dunnemals. Diese Ambivalenz auszusprechen und auch auszuhalten, damit selbstironisch umzugehen, das halte ich für wichtig. Das schützt auch vor Dogmatismus. Mir geht es nicht darum, eine Situation zu idealisieren, sondern wirklich nahe an unsere menschliche Natur heranzukommen. Und die ist sehr widersprüchlich. Wir rufen, wer hat uns verraten, Patriarchaten. Und dann kommt so ein attraktiver Kerl und wir liegen ihm zu Füßen.
Für die meisten Ihrer Filme haben Sie auch das Drehbuch verantwortet, bei "Freibad" dagegen Karin Kaçi und Madeleine Fricke an Ihre Seite geholt. Eine Autorin mit Migrationshintergrund und eine jüngere Autorin...
Ich wollte dieses Thema multiperspektivisch angehen und nicht behaupten, dass ich weiß, wie junge Frauen oder Frauen mit migrantischem Hintergrund denken. Natürlich kann ich das recherchieren, aber dann fehlt Authentizität und Perspektive. Deshalb nehme ich das multiperspektivische Erzählen ernst und auch die Auseinandersetzung mit den Betroffenen. Wenn ich über Araberinnen oder eine türkische Familie rede, muss ich fragen, wie ist denn eure Sicht auf die Dinge. Und so kamen hier auch die Ambivalenzen in all den verschiedenen Gruppen zusammen. Dass die Araberinnen sich nicht im Badeanzug neben Nichtmusliminnen zeigen wollen, selbst in einem Frauenbad nicht. Dass die türkische Familie Vorbehalte gegen Araberinnen hat, all das hätte ich mit meinem Kartoffelhirn nicht gewusst, und ich empfinde es als eine große Chance, mit und von Betroffenen zu lernen. Es ist aber auch etwas, was mir wahnsinnig Spaß macht.
Viele Dialoge im Film handeln unterschwellig von Rassismus, Sexismus, Diskriminierung, auch von Frauen, die sich als tolerant bezeichnen würden. Sie selbst hinterfragen auch den eigenen Rassismus und die "critical whiteness".
Den eigenen Rassismus zu hinterfragen und "critical whiteness" als Denkansatz und Lernmöglichkeit zu sehen, halte ich für unabdingbar. Themen wie Rassismus, Homophobie, Marginalisierung und Gleichberechtigung standen immer in meinen Filmen ganz oben auf der Agenda, aber ich lerne gerade jetzt noch einmal sehr dazu. Dass manche glauben, die neue Aufmerksamkeit dafür sei übertrieben und gehe zu weit, halte ich für rückwärtsgewandt und aggressiv. Ich kann doch nicht bestimmen, was verletzt und was nicht, sondern sollte mich schon fragen, wie weit ich latent Mikroaggressionen und Rassismen von mir gebe. So wie im kleinen Mikrokosmos "Freibad" sollten wir die Regeln für unser Zusammenleben neu verhandeln.
Wir erleben ein ziemliches Rollback bezüglich der Frauenrechte. Was ist für Sie als moderne Feministin und als Filmemacherin derzeit das größte Anliegen?
Was heute passiert, hätte ich nie für möglich gehalten. Nicht nur das Kippen der Abtreibungsgesetze in USA. In Ländern wie Polen und Ungarn oder anderen europäischen Ländern geht es ebenfalls schon lange wieder rückwärts. Und dass immer noch Männer über den weiblichen Körper bestimmen, ist unglaublich und nicht hinnehmbar. Wir müssen uns mehr als zuvor für die Demokratie kämpfen, und damit auch generell um die Selbstbestimmung der Frau. Es wird Zeit, dass wir die Klappe wieder aufreißen.
Da scheint es einen Dissens zu geben zwischen "alten" und "jungen" Feministinnen. Alice Schwarzer, das Urgestein des Feminismus, wird ziemlich angegriffen.
Das greife ich im Film auf. Da ist Eva, die Verhüllung immer für religiös motiviert hält und damit für politisch, und die Jungen, die sagen, Moment mal, ich entscheide für mich und wenn ich das will, kannst du mir gar nichts sagen. Du hast mir beigebracht, dass ich frei sein und mein Ding machen soll. Wir Älteren sollen da hinhören und nicht auf unseren alten Positionen hocken bleiben und sie für das einzig Wahre halten. Da heißt es, neugierig sein und den Jungen eine Stimme geben. Die Jungen haben immer Recht, ein ehernes Gesetz. Damals waren noch ganz andere Themen wichtig. Wir müssen uns vor einer Verknöcherung hüten.
Wird man mit zunehmendem Alter gegenüber den Jungen intolerant?
Ich habe viel mit jungen Leuten zu tun und lerne unendlich viel von ihnen. Sie sind deutlich sensibler und schauen genauer und anders hin. Plötzlich werden so viel Dingen angesprochen. Klar, manchmal schießen sie übers Ziel hinaus. Aber das ist das Recht der Jugend. Haben wir doch auch gemacht.
Sie sind eine Verfechterin der Quote. Aber sind Quoten und Vorgaben nicht mehr als Krücken? Was hat sich gebessert, was muss sich noch bessern?
Zähneknirschend habe ich verstanden, dass wir die Quote im Filmbereich brauchen. Es ist eine Einsicht in die Notwendigkeit, weil sich ohne sie nichts geändert hat. Wenn ich sehe, wie die Quote läuft bei Finanzierung, Jobvergabe, beispielsweise bei Autorinnen für den Tatort - da kommen mir die Tränen. Wenn an der HFF München über 70 Prozent Filmstudentinnen ausgebildet werden, aber nur 15 Prozent als Regisseurinnen im Job landen, stimmt etwas nicht. Da muss dringend etwas zurecht gerückt werden. Quote heißt, erst einmal die Gelegenheit zu bekommen, überhaupt etwas zu machen. Gute Worte und Beschwichtigungen nützen nichts.
Die "alten weißen Männer", die ihre Privilegien mit Klauen und Zähnen verteidigen, sind inzwischen Feindbild. Was ist mit den "alten weißen Frauen"? Sind das geborene Unschuldsengel?
Nein, natürlich nicht. Und die nehme ich im Film schon sehr genau unter die Lupe. Sie fällen viele Urteile und pflegen Vorurteile. Aber die "alte weiße Frau" übt kaum Macht aus. Es geht in unserer Gesellschaft um die Machtfrage. Und die Macht liegt eindeutig noch immer bei den Männern.