"Coco" - Mahnend barockes Totenfest

Disneys Animationsfilm "Coco" begibt sich in die lateinamerikanische Totenwelt, die uns nach unseren eigenen Werten befragt.
von  Adrian Prechtel
Im Totenreich findet Miguel Rivera seinen Urgroßvater wieder: einen genialen Musiker, der von seinem berühmten Bandkollegen um Geld, Familie und Leben gebracht wurde.
Im Totenreich findet Miguel Rivera seinen Urgroßvater wieder: einen genialen Musiker, der von seinem berühmten Bandkollegen um Geld, Familie und Leben gebracht wurde. © WDS

Disneys Animationsfilm "Coco" begibt sich in die lateinamerikanische Totenwelt, die uns nach unseren eigenen Werten befragt.

Schon die politisch-psychologische Gemengelage um "Coco" ist skurril: John Lasseter, Chef des Disney-Animationsstudios Pixar, ist in die hysterische #Metoo-Debatte verwickelt. Der Mann, der "Coco" verantwortet, ist aus der Firma und der Öffentlichkeit verschwunden, um über seine Übergriffigkeit zu reflektieren. Währenddessen träumt Ober-Sexist Donald Trump weiter von seiner Abschirmungsmauer gegen Mexiko. Aber prompt wendet sich der verlässliche Inbegriff amerikanischer Kultur – der Disney-Konzern – den Menschen, Mentalitäten und Bräuchen auf der anderen Seite zu – eben mit "Coco", Disneys Familien-Vorweihnachtsfilm. Denn der spielt am "Día de los Muertos", ein Tag, an dem Lateinamerika genau das feiert, was in unserer technisch hochentwickelten Welt verloren gegangen ist: Tradition und Familienbande.

Ein Film, der uns und Amerika Fragen stellt

Und in einer tragischen Szene erlebt man, wie ein Toter im Totenreich noch einmal stirbt, endgültig verblasst, weil er in unserer Welt endgültig vergessen worden ist. Und so ist "Coco" auch nach Allerseelen, Buß- und Bettag und Ewigkeitssonntag ein Film, der uns und Amerika Fragen stellt, gespiegelt an der Gesellschaft Mexikos: mit Teenager Miguel, der in eine vier Generationen umspannende Schuster-Familienlinie eingebunden ist, aber Musiker werden will.

Wenn man am Ende nachdenkt über das eigene Herkommen, unseren dürftigen Erinnerungs-Umgang mit den Vorfahren, über Familienwerte, die immer auch kritisch befragt werden müssen, aber letztlich wichtige soziale Bindung und Hort von Menschlichkeit sind, dann merkt man: Gegenüber der Kultur des armen Mexiko haben wir in unserem Wohlstandsstreben auch etwas verloren. Dabei verklärt "Coco" die lateinamerikanische Werte-Konservativität intelligenterweise nicht.

Etwas schade ist, dass die an Mariachi-Musik orientierten Filmsongs nicht richtig abgehen, wie es dieser Stil eigentlich verlangt, und dass sie in der bei Liedern unnötigen deutschen Synchronisation noch lauer wirken.

Kein richtiger Kinderfilm

Kein Problem, aber eine Warnung an Eltern ist: "Coco" ist kein richtiger Kinderfilm fürs Vorschulalter. Nicht, dass es nichts zu staunen gäbe: die aus Millionen orangen Blütenblättern sich spannende Brücke ins Reich der Toten, die grellbunte Latino-Totenstadt, der Zauber tausender Kerzen in der Nacht sind phantastisch, wirklich magisch. Auch ist die Atmosphäre im Reich der Skelette eher witzig wild als gruselig.

Aber "Coco" fordert dem Zuschauer auch Konzentration ab und das Fassen eines großen Dramaturgiebogens, in dem sich eine gewagte Volte findet: Denn Miguel glaubt, im Totenreich endlich seinen Urgroßvater gefunden zu haben: den geschmeidigen Superstar Ernesto de la Cruz, ein Popstar mit Gitarre, der auch noch im Jenseits reich und berühmt ist. Aber, obwohl der Film auf diesen Höhepunkt zusteuert, handelt es sich um einen Irrtum.

Miguel entlarvt den Star als Mörder und findet seinen wahren Urgroßvater, der für die Musik seine Familie verlassen hatte, aber dann umkehrte. Und hier ist eine zweite Pointe: Der Film heißt nicht nach seiner Hauptfigur, dem zwölfjährigen Miguel, sondern nach seiner Großmutter, Coco, die als Kind mit ihrer Mutter vom Musikervater verlassen wurde. Das ist das Familientrauma, das erklärt, warum alle verhindern wollen, das Miguel Musiker wird.

Überraschend kompliziert

Das alles ist psychologisch tief und ambitioniert, aber eben auch überraschend kompliziert. Und für uns Erwachsene sind ein paar Polit- und Bildungswitze eingebaut: Frida Kahlo kommt als Travestienummer vor, die Grenzkontrollen mit biometrischer Erfassung beim Übergang zwischen Welt und Totenreich sind Parodien auf den immer härter werdenden Einreisezirkus in den USA.


Kinos: Cadillac & Veranda (2D), Cinema (OV, auch 3D), CinemaxX (3D), Mathäser (auch 3D, auch OV), Münchner Freiheit (auch 3D), Museum-Lichtspiele (OV), Royal
Regie: Lee Unkrich, Adrian Molina (USA, 105 Min.)

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