Charlotte Gainsbourg sucht dieses dunkle Objekt der Begierde in "Nymphomaniac"
Lars von Triers zweiter Teil von „Nymphomaniac" komplettiert die weibliche Sexlebensbeichte und ist dabei kein Porno, aber masochistisch
Warum heißt sie Joe? Es ist ein zwischen den Geschlechtern changierender Name. Denn dass jemand von Kindheit an das Leben der Orgasmusjagd unterordnet, wird eher als vagabundierend männliche Getriebenheit gesehen. Hier aber ist Charlotte Gainsbourg ein „Nymphomaniac“. Es geht um Sex, „Vergiss die Liebe“ ist der Untertitel des Films, dessen zweiter zweistündiger Teil jetzt sechs Wochen nach dem ersten ins Kino kommt und eigentlich nur als Gesamtwerk Sinn ergibt. Denn erst die gesamten vier Stunden ergeben zusammen einen irrwitzigen, radikal-gespannten Bogen von der Kindheit bis zum 50. Lebensjahr.
Es ist eine sexuelle Lebensbeichte von der Kindheit bis 50
Joe erzählt, mit Hämatomen und Abschürfungen übersät, teetrinkend sich kurierend, eine ganze Nacht lang die Episoden ihres erwachsenen, nymphomanen Sexlebens. Auf ihrer Bettkante sitzt ein älterer Herr mit einem traurig-bubenhaften Gesicht. Er wird ihr intellektueller Seelenheiler, mönchischer Beichtvater. Denn das ist ein Lars-von-Trier-Prinzip, seinen Themen Geschlechterverhältnis, Sex, Gewalt und Familienstrukturen kulturgeschichtliche, philosophische, oft auch religiöse Assoziationen und Einwürfe einzuimpfen. Und mit Lust bricht Trier gewonnene Einsichten auch gleich wieder. Mit diesem Überbau ist auch der geschickt als Vierstunden-Porno mit hohem Erregungspotenzial angekündigte „Nymphomaniac“ kein Sexfilm für Voyeure. Im Zentrum der zweiten Hälfte des Werkes steht der Masochismus.
Keine Lust beim Ehemann. Wieviele Hiebe bekam Jeuus?
Joe liebt nach sexuellen Wanderjahren ihren Ehemann (Shia LaBeouf). Aber als ob sich Liebe und Lust ausschließen, hat sie mit ihm keinen Orgasmus. So lässt sie sich von einem emotionslosen Sado-Meister regelmäßig auspeitschen in einer behördenartigen Arztpraxis mit Wartezimmer. Es sind Akte der wortlos duldenden Selbstbestrafung, des Sich-Spüren-Wollens, der Rebellion. Und das bringt eine Diskussion mit dem mönchischen Mann am Bettrand irritierend mit der Geißelung Jesus Christus in Zusammenhang und der Zahlenspiel-Frage, ob es 40 oder 39 Hiebe waren, die Jesus Christus mit der neunschwänzigen Katze erhielt?
Solche Skurrilitäten sind aber immer unterfüttert mit intelligenten Analyse-Fragen: Wie hält es unsere Religion und Gesellschaft mit der Körperlichkeit? Am Klarsten wird dies in einer Episode, in der Joe zur Selbsthilfegruppe der „Anonymen Sexsüchtigen“ geht. Bis ihr etwas aufgeht, sie aufsteht und geht: Hier sollen sich Menschen heilen. Was aber, wenn man radikale Formen von Sexualität gar nicht als „Krankheit“ sieht, sondern als eigene Freiheit, mit der die bürgerliche Gesellschaft nicht zurecht kommt, weil sie sie nicht integrieren kann, sie als Bedrohung sieht? Und schon ist man in einer De-Sade-Diskussion.
Frauenfeindlich? Das ist nicht das Thema!
Lars von Trier bekommt oft den Vorwurf zu hören, seine Werke seien frauenfeindlich. In „Antichrist“ riskiert eine Frau das Leben ihres Kindes für einen Orgasmus. Diese Sequenz wiederholt der Regisseur provokativ jetzt wieder. Und Joe wird ihre Teenager-Pflegetochter gefühllos zur Verbrecherin abrichten und für ihr sexuelles Inkassobüro arbeiten lassen. Zahlungsunwillige werden sexuell verhört: Ihre intimsten Wahrheiten werden ans Licht gezerrt, bis sie aufgeben. Bleibt noch die alte Frage: Kann es entsexualisierte, begehrensfreie Freundschaft zwischen Mann und Frau geben? Der Film beantwortet dies mit einem Schlussknall.
Kino: Arri, Cadillac, City, Neues Gabriel, Monopol, Rio, Studio Isabella sowie Cinema (OV) B&R: Lars v. Trier (Dk, 118 M.) Wer zuvor noch Teil 1 sehen will: Neues Arena, 21.15 Uhr