"Benedetta": Lesbische Nonnen zwischen Lust und Laster
Cannes ist treu. Sagt zumindest Festivaldirektor Thièrry Fremaux. Er meint damit, dass Regisseure - sofern sie sich nicht daneben benehmen wie Lars von Trier vor einigen Jahren mit seiner Nazi-Selbstbezichtigung - immer wieder eingeladen werden, mit der Chance, ihre neuen Filme zu zeigen, sogar wenn sie misslungen sind.
Paul Verhoeven hat jetzt mit "Benedetta" auf den "Basic Instinct" gesetzt und einen Lesbennonnen-Halbporno geliefert: die Geschichte der Benedetta Carlini aus dem 17. Jahrhundert und aus gutem Hause, die schon als Kind Visionen hat. Im Kloster wird sie dann von einer handfesteren Mitschwester offensiv verführt, was bis zum Sex mit einer zum Dildo umgeschnitzten Marienstatue führt - und damit fast auf den Scheiterhaufen.
"Benedetta" verstört in Cannes
Jesus reitet da schon mal als sexy Märchenritter auf einem Schimmel daher und trennt teuflischen Schlangen mit Schwerthieben die Köpfe ab. Und das Publikum lacht laut auf, wobei die Frage bleibt, ob Verhoeven die Sache selbst ernst genommen hat. Aber wie eine reine, absichtsvolle Trashgeschichte wirkt das alles auch wieder nicht. Schließlich spielen auch ernste Größen wie Charlotte Rampling (als Äbtin) oder Lambert Wilson (als päpstlicher Nuntius) mit.
Aber von diesem Schock hat sich das Festival schnell wieder erholt mit Meisterwerken - wie dem französischen "Fracture" von Catherine Corsini. Es ist ein Drama mit komischen Aspekten, weil der italienische Star Valeria Bruni Tedeschi als hypochondrische Hysterikerin Raf eine Woody-Allen-hafte Dauerkrisenbeziehung mit ihrer Freundin (Marina Fois) hat. Beim Hinterherlaufen nach einer Trennung bricht sich Raf einen Arm und landet im Krankenhaus.
Auch Sean Penn stellt seinen neuen Film vor
Und hier bricht in die Beziehungstragikomödie die brutale Realität ein, weil gerade die Gelbwesten-Proteste zu bürgerkriegsartigen Zuständen eskalieren und das Krankenhaus zum gesellschaftlichen Krisenort und Spiegel wird. Denn im Chaos des überlasteten und unterfinanzierten Gesundheitssystems sind alle gleich. "Fracture" meint eben nicht nur den Armbruch oder den Beziehungsbruch, sondern den, der durch die Gesellschaft geht. Und am Ende ist das Ganze ein Drama, in dem die halbintellektuellen Bourgeoisie-Frauen aus ihrer Komfort- und Vorurteilszone herausgerissen werden und nachdenken müssen, was sich sozial radikal ändern muss.
Außerdem stellte mit Sean Penn ein weiterer Cannes-Veteran seine neue Regiearbeit vor: In "Flag Day" spielt der Oscar-Preisträger auch selbst die Hauptrolle. Der Film ist sozusagen eine Familienproduktion: Als seine Filmtochter tritt Penns echte Tochter Dylan auf, und auch Sohn Hopper Jack Penn ist mit dabei. Die beiden Kinder stammen aus Penns Ehe mit Robin Wright.
Die wahre Geschichte von John Vogel
"Flag Day" ist die wahre Geschichte der US-Journalistin Jennifer Vogel, die in ihrem Buch "Flim-Flam Man: A True Family Story" ihren kriminellen Vater porträtiert hat. John Vogel war in den 1990er Jahren einer der produktivsten Geldfälscher der USA, seine Blüten waren täuschend echt gemacht. Die Behörden führte er lange an der Nase herum, seiner Familie verheimlichte er alles. Der große Coup, auf den er immer hoffte, blieb aus.
Schließlich fanden die Beamten bei Vogel 200.000 gefälschte Scheine im Wert von 19 Millionen Dollar. Vor dem Prozess konnte Vogel untertauchen, bei einem Banküberfall gerät allerdings das FBI auf seine Spur und Vogel entzieht sich der Verhaftung, indem er sich erschießt.
Eine Figur, die wie gemacht scheint für Sean Penn, diesen Charakterkopf mit Hang zu vielschichtigen, auch zwielichtigen Figuren. Tatsächlich funktioniert die aus der Sicht der Tochter erzählte Geschichte auch dank ihrer Besetzung ganz wunderbar.
Sean Penn inszeniert herrlich
Penn, der hier zu seiner inszenatorischen Hochform von "Into the Wild" zurückfindet, zeichnet die Liebe, die Jennifer Vogel für ihren von der Mutter getrennt lebenden Vater hegt, mit zärtlicher Sehnsucht; sie teilt die intimen Momente von Kindheitserinnerungen nur allzu gerne und drapiert drumherum ein idealisiertes Vaterbild, das so niemals existiert hat und immer wieder enttäuscht wird.
Sean Penn rückt besonders die kindlichen Erinnerungen ins Zentrum: "Alles, was mein Vater je an verrückten Dingen gemacht hat, sah so aus, als hätte er es nur für mich getan", sagt Jennifer. Sie spricht aus, wonach wir uns fast alle sehnen: nach den verklärten Tagen einer glücklichen Kindheit.
Außerhalb des Wettbewerbs hat es noch eine Wochenend-Überraschung gegeben: Ari Folmans "Wo ist Anne Frank". Wie schon "Waltz with Bashir", in dem Folman 2008 die Traumatisierungen von israelischen Soldaten im Libanonkrieg verarbeitete, ist auch die Geschichte von Kitty, der imaginierten Tagebuchfreundin von Anne Frank, ein Animationsfilm.
Kitty erwacht magisch im heutigen Amsterdam, erinnert sich an ihre Freundin Anne Frank und schaut, was die Welt aus der berühmtesten Tagebuchschreiberin gemacht hat.
Der Film geht dabei sogar über das Tagebuch hinaus, erzählt auch die Zeit der Deportation nach Bergen-Belsen. Und welche Bilder Folman für das Undarstellbare findet, ist fantastisch, weil er auf Anne Franks fantasievolle Fähigkeit zurückgreift, der Welt eine Traumwirklichkeit überzustreifen, ohne das Grauen zu leugnen.
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