AZ-Interview mit Leni Riefenstahl zu ihrem 100. Geburtstag 2002

Ihr Blick war undurchschaubar - wie ein blinder Spiegel. Auf Kindheitsbildern schaut sie ins Weite. Auf Filmfotos wirken ihre Augen entrückt, aber nie sanft. Wenn sie im hohen Alter lächelnd vor einem stand, spiegelten ihre Augen nichts, schienen kalt. Was nicht an der Farbe lag, dieser Mischung aus braun und grün. Sie wirkten wie Augen einer Katze. Und wie eine Katze hatte Leni Riefenstahl viele Leben, die das ganze 20. Jahrhundert fassen und tragisch und schuldhaft mit der deutschen Geschichte verbunden sind. Die AZ traf Leni Riefenstahl in ihrer Pöckinger Villa am Starnberger See.
AZ: Frau Riefenstahl, 100 Jahre - ist das ein Segen...
LENI RIEFENSTAHL: ... ja. Aber das Alter ist auch wie ein Fluch. Ich habe mir nicht ausgesucht, Hundert zu werden.
Wer, glauben Sie, hat es für Sie ausgesucht?
Das Schicksal.
Und Sie selbst: Was haben Sie dazu beigetragen?
Ich bleibe an allem interessiert, lese Zeitungen, gehe jeden Tag eine Stunde spazieren. Und ich dusche am Morgen kalt, seit Jahrzehnten.
Glauben Sie an Gott?
Nicht im kirchlichen Sinne. Ich glaube an Gott im Sinne der Natur. Das Göttliche drückt sich vor allem in Schönheit aus, der Schönheit der Schmetterlinge, der Unterwasserwelt. Überhaupt glaube ich an die Schönheit, auch die der Menschen. Meine Reportagen über die Nuba-Stämme im Sudan zeigen das und feiern die Natürlichkeit.

Sie haben die verschiedenen Nuba-Stämme immer wieder für längere Zeit besucht. Was ist Ihnen aufgefallen?
Dass Geld korrumpiert. Zwischen meinem ersten langen Aufenthalt und meinem zweiten 1968 waren Teile der Nubas plötzlich mit Geld in Berührung gekommen. Und es begann das, was diese Menschen bis dahin nicht kannten: Neid, Missgunst und kultureller Niedergang.
Angefangen haben Sie einst als gefeierte Tänzerin, bis Sie wegen einer Knieverletzung aufhören mussten. Dann waren Sie Schauspielerin, vor allem in Bergfilmen von Arnold Fanck zusammen mit Luis Trenker...
...bis ich selbst angefangen habe, Filme zu drehen. Ich wollte manches besser machen als Fanck. Er hat alles spektakulären Naturaufnahmen untergeordnet und dabei oft die Erzählstruktur vernachlässigt.
Als Regisseurin sind Sie für Ihre Erzählstruktur und Schnitttechnik berühmt.
Ja, meine Olympiafilme "Fest der Völker" und "Fest der Schönheit" gelten als die besten Olympiafilme.
Nach Ihren erfolgreichen Fotoreportagen über die Nuba haben Sie begonnen, Tauchfilme zu drehen. Gibt es Projekte, die Sie gerne gemacht hätten, aber nicht machen konnten?
Viele. Eine meiner großen Ideen war, die "Penthesilea" von Kleist zu verfilmen. Mit tausenden von Statisten. Ich selbst hätte die Amazonen-Königin gespielt.
Fühlen Sie sich der Kämpferin verwandt?
Ja. Es ist diese Unbedingtheit in den Gefühlen. Diese rasende Leidenschaft und gleichzeitige Verteidigung der Unabhängigkeit.
Leidenschaft und Unabhängigkeit sind im wirklichen Leben oft schwer zusammenzubringen.
Sie waren die erste deutsche Regisseurin, haben sich schon früh emanzipiert.
Für mich spielte das Wort Emanzipation keine Rolle. Für mich war das alles sehr natürlich. Ich habe einen jüngeren Bruder gehabt, der weicher war als ich, während ich auch etwas Jungenhaftes an mir hatte. Mir kam das nie unnatürlich vor. Und mit dem Frausein habe ich auch keine Probleme. Aber in der Liebe hatte ich viel Pech.

Vielleicht, weil sich die Männer vor Ihnen gefürchtet haben?
Das ist, glaube ich, nicht der Grund. Es liegt eher daran, dass ich wirklich treu bin. Ohne Rücksicht auf Verluste - was meine Ansichten betrifft und was die Liebe anbelangt. Ich bin wirklich nicht prüde, nicht einmal besonders eifersüchtig und habe nichts gegen heißen Sex. Aber ich war drei Jahre mit einem Mann verheiratet, der es mit der Treue eben nicht ernst genommen hat. Das verletzt. Ich bin sehr wahrheitsliebend.
Finden Sie, dass die Männer heute besser aussehen?
Nein. Es sind nur verschiedene Stile, heute ist alles legerer. Aber ich mache mir weniger aus Äußerlichkeiten als man bei einer Perfektionistin wie mir denken würde.
Ist die Liebe heute leichter als früher?
Überhaupt nicht. Auch die 20er Jahre waren wild und intensiv. Heute ist eher das Problem, dass alles sexualisiert ist, überall alles gezeigt wird. Das ist das Problem, die Erotik, der Sex, das verliert so seinen Reiz, sein Geheimnis.
Wie haben Sie die Liebe erlebt?
Intensiv, unbedingt. Ich war in einen Assistenten, Hans Schneeberger, verliebt, der später Kameramann wurde. Über fünf Jahre hatte ich eine wunderbare Affäre, oder "Beziehung", wie man es heute etwas neutral ausdrückt. Auch diese Liebe hat mein Leben enorm beeinflusst. Der Regisseur Joseph von Sternberg wollte mich mit nach Hollywood nehmen. Aber ich bin der Liebe wegen in Deutschland geblieben. Mein Herzensmann wollte nicht weg.
Marlene Dietrich ist mit Sternberg nach Amerika und wurde ein Weltstar.
Ja, aber das kann man mit meiner Situation nicht vergleichen, wir sind Gegentypen, obwohl ich sie sehr verehre.
Sie beide haben etwas Preußisches, Pflichtbewusstes.
Ja, aber sie ist der Vamp-Typ, schon immer gewesen. Ich bin innerlicher, romantischer. Ich war - auch als Rollentyp - eher die Naive.
Auch in politischer Weise?
Natürlich. Es gibt Schicksalssituationen, ohne die wäre alles anders gelaufen. Ich würde in meinem Leben manches anders machen. Aber alles ist so gekommen, weil ich eben so bin. Wie singt Marlene? "Das ist, was soll ich machen, meine Natur..." Ich kann halt treu sein nur, ist meine nächste Zeile. Aber wenn ich nach dem großen Erfolg meines Films "Das blaue Licht" nicht Hitler getroffen hätte, wäre mein Leben natürlich anders verlaufen.
Bis heute wirft man Ihnen vor allem vor, in "Triumph des Willens" Hitler verherrlicht zu haben.
Lassen Sie uns nicht über Hitler reden. Ich habe genug von ihm. Meine Filme sind Dokumentarfilme und als solche haben sie schon damals auf der ganzen Welt Preise gewonnen. Auf der ganzen Welt, nicht nur in Hitler-Deutschland. Aber Hitler lassen wir jetzt beiseite, der verdirbt unser Interview und noch meinen Geburtstag.

Wie erklären Sie sich den Hass auf Sie nach 1945, der viele weitere Filmprojekte verhinderte?
Zum einen, weil ich meinen Überzeugungen treu geblieben bin und nicht so getan habe, als sei niemand jemals so richtig dabei gewesen. Dabei ist es die Ironie des Schicksals, man könnte auch sagen: schreiende Ungerechtigkeit, dass gerade ich so verfolgt worden bin.
Sie standen aber mit ihren Filmen auch besonders im Rampenlicht.
Ich habe diese Filme gemacht, weil ich es musste und mich ansonsten aus allem rausgehalten. Nehmen Sie den Schauspieler Gustaf Gründgens oder den Filmregisseur Veit Harlan, der "Jud Süss" gedreht hat. Von mir hat man nie ein einziges rassistisches Wort gehört, ich war nie in den geheimlogenartigen Künstlerzirkeln, die sich um Goebbels gebildet haben. Ich war auch nie Parteimitglied. Gerade, weil ich eben nicht verwickelt war, und das keiner glauben wollte, weil er selber so tief drinsteckte, sind dann Verleumdungen gegen mich auf fruchtbaren Boden gefallen: Sie wissen schon: Dass ich nackt vor dem Führer getanzt hätte und so.
Sie meinen die Geschichte mit Luis Trenker?
Genau. Der hat mit den gefälschten Tagebüchern der Eva Braun mir die Geschichte angehängt. Ich habe sie gerichtlich gestoppt, aber sie wissen ja, wie das so geht: Irgendwas bleibt immer hängen.
Luis Trenker war Ihnen doch als Naturmensch seelenverwandt.
Nein, er war anders. Aber wie das mit Männern so ist: Abgewiesene Liebhaber werden oft zur Hyäne. Als auf Filmplakaten stand "Leni Riefenstahl und Luis Trenker" hat er sich aufgeregt, weil er nicht als Erster aufgeführt war. Ich glaube, es war auch Neid im Spiel.
Hat sie die Ablehnung Ihrer Person im Deutschland der Nachkriegsjahre getroffen?
Tief. Ich hatte gerade ein Verfahren gewonnen, mein beschlagnahmtes Eigentum zurückzubekommen, als die Trenker-Nackt-Tanz-Geschichte verbreitet wurde. Und in dieser gereizten Stimmung haben die Franzosen die Rückerstattung sofort gestoppt. Ich hatte fast keinen Pfennig mehr, wohnte in einem Zimmer mit meiner Mutter. Und dann immer prozessieren müssen, gegen den Schmutz in der Presse.
Lesen Sie überhaupt, was über Sie geschrieben wird?
Ja, aber das schmettert mich oft nieder. Wissen Sie: Die Amazonen-Königin Penthesilea bewundere ich, weil sie mit bloßem Willen ihr Leben beenden konnte. Ich habe mich oft danach gesehnt, das zu können. Ich habe schon immer eine große Todessehnsucht in mir gespürt. Und sind jetzt 100 Jahre alt... Ja. Ist das nicht seltsam? Aber ich bin letztlich Optimistin und liebe das Schöne. Das hält mich am Leben. Ich habe auch selbst die Lebensgefahr nie gesucht.
Aber Sie wurden nie gedoubelt, mussten sich von Lawinen verschütten lassen, sind ins Eiswasser gefallen...
Ja, aber ich habe mir das nicht ausgesucht. Das wurde an mich herangetragen, und da war ich eben konsequent: Wenn es dem Film dient, machen wir es eben so. Und auch die Skifahrszenen waren gefährlich: Eispisten, vorbei an Klippen und Abstürzen ohne Piste. Und stellen Sie sich mal die Ausrüstung von damals vor: Keine Bindungen und Skischuhe.
Vierzig Jahre später haben Sie sich mit besserer Ausrüstung beim Ski-Fahren schwer verletzt.
Ja, das war 1980. Ich bin gestürzt und habe mir die Wirbelsäule so verletzt, dass ich nach zig Operationen jetzt Metallstifte in mir trage und starke Schmerzen habe. Dann gab es noch vor zwei Jahren den Hubschrauberabsturz in den Bürgerkriegswirren im Sudan, wo ich nach meinen Freunden suchte, den Nuba, mit denen ich gelebt habe und deren Leben ich über Jahre hinweg dokumentiert habe.
Schauen Sie sich noch ihre eigenen Filme an?
Wenn Sie öffentlich gezeigt werden, gehen ich manchmal hin.
Und Filme anderer? Ja, ich liebe Vittorio de Sica. "Die Fahrraddiebe" ist einer meiner liebsten Filme
Der Film ist sozialkritisch, "neorealistisch", das Gegenteil Ihres Stils.
Ja und Nein. Ich will immer das Schöne zeigen, auch als Mahnung, um es vor der Zerstörung zu bewahren. Das gilt für die Bergwelt, meine Aufnahmen mit den Nuba wie für meine Unterwasserfilme. "Impressionen unter Wasser" wird ja bald nach meinen Geburtstag uraufgeführt werden. Es ist ein Appell zur Bewahrung der Natur. Ich bin auch Greenpeacemitglied. In gewisser Hinsicht bin ich also Realist. Aber mir gefallen auch Filme von Fellini. Und der war ein Träumer wie ich.
Was macht Sie zur Träumerin?
Wissen Sie, wenn man älter wird, kann man sich auch wieder besser an die Kindheit erinnern. Mir ist erst vor Kurzem wieder so richtig bewusst geworden, wie viele Märchen ich gelesen habe. Man darf das gar nicht laut sagen, aber ich habe, bis ich 16 war, Märchen gelesen. Ich glaube, das sagt etwas über meine Wünsche und Sehnsüchte aus.
Gehen Sie heute noch ins Kino?
Ja, auch wenn es viele Kilometer weit weg ist, in Herrsching. Von Harry Potter habe ich alle Bände gelesen und mir den Film angesehen. Ich habe es genossen.
Jetzt feiern Sie Ihren Geburtstag. Wird es anstrengend?
Sehr. Ich habe ungefähr zweihundert Gäste in einem Hotel, wo schon die Sissi war.
Gibt ihnen das nicht auch Kraft, weil sie sehen, wie viele Menschen sie bewundern und schätzen?
Natürlich, das ist ein Lebenselixier gegen all die Anfeindungen. Ich bekomme täglich Post aus der ganzen Welt.
Gibt es noch weitere Projekte.
Man sollte mit hundert nicht mehr allzu vermessen sein. Aber wenn ich könnte, würde ich noch einen Film über Van Gogh machen.
Warum gerade über ihn.
Er ist geistesverwandt. Ein Mann, der stilisiert hat bis ins letzte, sich der Schönheit verschrieben hat und so unbedingt war, wie ich es bin. Oder glauben Sie, man könnte sich einfach so ein Ohr abschneiden, wen man nicht von einer Sache besessen wäre?
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